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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0104
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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lichkeit erwachsen, für die erst der volle Sinn von Kommunikation zwischen Men-
schen und der Horizont eigentlicher Vernunft aufleuchtete.
Dem Abendland ist seine eigene Wirklichkeit zum Bewußtsein gekommen. Es hat
nicht einen beherrschenden Menschentypus hervorgebracht, sondern viele und ent-
gegengesetzte. Kein Mensch ist alles, jeder steht darin, ist notwendig nicht nur verbun-
den, sondern getrennt. Und niemand kann daher das Ganze wollen.

| 7. Orient und Okzident

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(Morgenland und Abendland)

Wenn wir die drei geschichtlichen Bewegungen in China, Indien und dem Abendland
parallel setzten, so vernachlässigten wir den Vorrang, den der Europäer sich zu geben
pflegt. Im vorigen Abschnitt haben wir das europäische Selbstbewußtsein, dem kein
Europäer sich entziehen kann, durch eine Charakteristik interpretierend zum Aus-
druck gebracht.
Daß allein die europäische Entwicklung zu dem technischen Zeitalter geführt hat,
welches der ganzen Erde heute ein europäisches Gesicht gibt, und daß dazu eine ratio-
nale Denkungsart allgegenwärtig geworden ist, scheint den Vorrang zu beweisen. Zwar
haben auch Chinesen und Inder so gut wie Europäer sich als die eigentlichen Men-
schen gefühlt und ihren Vorrang wie selbstverständlich behauptet. Aber es scheint
nicht das gleiche zu sein, wenn alle Kulturen sich für die Mitte der Welt halten. Denn
nur Europa scheint durch seine Verwirklichung seinen Vorrang bewährt zu haben.
Das Abendland hat sich von vornherein - seit den Griechen - in einer inneren
Polarität von Okzident und Orient konstituiert. Seit Herodot ist der Gegensatz von
Abendland und Morgenland bewußt geworden als ein ewiger Gegensatz, der in immer
neuen Gestalten erscheint. Damit überhaupt ist der Gegensatz erst eigentlich wirklich,
denn geistig wirklich ist etwas nur mit seinem Wissen um sich. Die Griechen haben
das Abendland gegründet, aber so, daß dieses nur da ist, indem es ständig seinen Blick
auf den Orient richtet, sich mit ihm auseinandersetzt, ihn versteht und sich von ihm
absetzt, von ihm übernimmt und zu eigenem verarbeitet, mit ihm kämpft, wobei die
Macht von der einen zur anderen Seite wechselt.
Es ist nicht einfach der Gegensatz von Griechen und Barbaren. Dieser ist dem We-
sen nach analog gedacht von den Chinesen, Ägyptern, Indern gegenüber den ande-
ren Völkern. In der Scheidung des Okzidents vom Orient bleibt der Orient eine gleich-
 
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