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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0103
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

91 | 7) Gegen seine Freiheit und unendliche Flüssigkeit hat das Abendland nun wie-
derum das Äußerste entwickelt durch den Ausschließlichkeitsanspruch der Glaubens-
wahrheit in den biblischen Religionen einschließlich des Islams. Die Totalität dieses
Anspruchs ist nur hier im Abendland aufgetreten als ein Prinzip, das dauerhaft durch
die Geschichte ging.
In der Folge aber war wesentlich, daß zwar die Energie solchen Anspruchs die Men-
schen steigerte, aber daß der Anspruch zugleich in Schranken gehalten wurde durch
die Spaltungen, sowohl in die vielen biblischen Religionen und Bekenntnisse, wie in
Staat und Kirche. Der Anspruch der einen Herrschaft brachte, indem er auf den glei-
chen Anspruch anderer Gestalten traf, nicht nur den Fanatismus, sondern die unauf-
haltsam weiter fragende Bewegung.
Gerade daß nicht eine einzige Herrschaft wurde, sondern Staat und Kirche in Kon-
kurrenz standen, beide mit totalem Anspruch, der nur jeweils aus Notwendigkeiten
des Kompromisses aufgegeben wurde, hat vielleicht durch die ständige geistige und
politische Spannung dem Abendland seine hohe geistige Energie, seine Freiheit, sein
unermüdliches Suchen, Entdecken, die Weite seiner Erfahrung gebracht, im Unter-
schied von der Einheit und vergleichsweisen Spannungslosigkeit aller orientalischen
Imperien, von Byzanz bis China.
8) In einer Welt, die durch kein Allgemeines geschlossen wird, aber stets auf Allge-
meines sich richtet, in der die Ausnahmen durchbrechen und zur Geltung als Wahr-
heit kommen, und in der der Ausschließlichkeitsanspruch geschichtlicher Glaubens-
wahrheit beides in sich hineinnimmt, da muß solche Spannung vor die äußersten
Grenzen bringen.
Daher eignet dem Abendlande eine Entschiedenheit, die die Dinge auf die Spitze
treibt, zur vollsten Klarheit bringt, vor das Entweder-Oder stellt, daher die Prinzipien
bewußt macht und die innerlichsten Kampffronten aufrichtet.
Die Entschiedenheit kommt zur Erscheinung in den konkreten geschichtlichen
Spannungen, in die fast alles, was im Abendlande wirkt, hineingezwungen wird, so
zum Beispiel in die Spannungen von Christentum und Kultur, von Staat und Kirche,
92 von Reich und Nationen, von romanischen und germanischen Nationen, von |
Katholizismus und Protestantismus, von Theologie und Philosophie. Nirgends ist der
absolute, feste Ort. Jeder sieht sich, gerade wenn er solches zu sein beansprucht, in
Frage gestellt.
9) Diese Welt der Spannungen ist vielleicht zugleich Bedingung und Folge der Tat-
sache, daß es nur im Abendlande die eigenständigen Persönlichkeiten in solcher Fülle der
Charaktere gegeben hat, von den jüdischen Propheten und den griechischen Philoso-
phen über die großen Christen bis zu den Gestalten des 16. bis 18. Jahrhunderts.
Und schließlich und vor allem ist ein Moment des Abendlandes die persönliche
Liebe und die Kraft grenzenloser Selbstdurchleuchtung in einer nie vollendeten Bewe-
gung. Hier ist ein Maß von Aufgeschlossenheit, von unendlicher Reflexion, von Inner-
 
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