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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0277
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

Einheitsvorstellungen täuschen, wenn sie mehr sein sollen als Symbole. Die Ein-
heit als Ziel ist unendliche Aufgabe; denn alle uns sichtbar werdenden Einheiten sind
partikular, sind nur Vorbedingungen einer möglichen Einheit, oder sind Nivellierun-
gen, hinter denen sich abgründige Fremdheit, Abstoßung und Kampf verbergen.
327 | Nicht einmal klar und widerspruchslos läßt sich eine vollendete Einheit auch nur
im Ideal entwerfen. Diese Einheit kann nicht wirklich werden, weder als der komplette
Mensch noch als die richtige Welteinrichtung, noch als das endgültig durchdringende
und offene gegenseitige Verstehen und Einverständnis. Das Eine ist vielmehr der un-
endliche ferne Bezugspunkt, der Ursprung und Ziel zugleich ist; es ist das Eine der Tran-
szendenz. Als solches kann es nicht gleichsam eingefangen werden, nicht zu dem aus-
schließenden Besitz eines geschichtlichen Glaubens werden, der sich als die Wahrheit
schlechthin allen aufzwingen dürfte.
Wenn die Universalgeschichte im Ganzen aus dem Einen her zum Einen hin geht,
so doch derart, daß alles uns Zugängliche zwischen diesen Endpolen liegt. Es ist ein
Werden von Einheiten, ein enthusiastisches Suchen der Einheit, es ist dann wieder ein
leidenschaftliches Zerschlagen von Einheiten.
So erhebt sich die tiefste Einheit in eine unsichtbare Region, in das Reich der Geister,
die sich begegnen und zueinander gehören, das verborgene Reich der Offenbarkeit des
Seins in der Eintracht der Seelen. Geschichtlich aber bleibt die Bewegung, die, immer zwi-
schen Anfang und Ende, nie erreicht oder auch immer ist, was sie eigentlich bedeutet.

328 | 4. Unser modernes geschichtliches

Bewusstsein

Wir leben in einer großen Überlieferung geschichtlichen Wissens. Die großen Histori-
ker seit dem Altertum, die geschichtsphilosophischen Totalanschauungen, Kunst und
Dichtung erfüllen unsere historische Phantasie. Dazu kam in den letzten Jahrhunder-
ten, durchschlagend erst im 19. Jahrhundert, die kritische Geschichtsforschung. Noch
kein Zeitalter besaß solche Kunde von der Vergangenheit wie das unsere. In Editionen,
Wiederherstellungen, Sammlungen und Ordnungen ist uns zu Griff, was die Genera-
tionen vor uns nicht besaßen.
Heute scheint eine Verwandlung unseres geschichtlichen Bewußtseins im Gange.
Bewahrt und fortgesetzt wird jene große Leistung der wissenschaftlichen Geschichts-
forschung. Aber nun soll sich zeigen, wie dies Material in neue Gestalten gebracht
 
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