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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0278
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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wird, wie es dazu dient, im Schmelztiegel des Nihilismus geläutert zu werden zu einer
einzigen wunderbaren Sprache des ewigen Ursprungs. Wieder wird die Geschichte aus
einem Gebiet bloßen Wissens zu einer Frage des Lebens und Daseinsbewußtseins, aus
einer Sache ästhetischer Bildung zum Ernst des Hörens und Antwortens. Wie wir Ge-
schichte vor Augen haben, ist nicht mehr harmlos. Der Sinn unseres eigenen Lebens
ist bestimmt durch die Weise, wie wir uns im Ganzen wissen, aus ihm geschichtlichen
Grund und Ziel gewinnen.
Vielleicht lassen sich einige Züge des werdenden historischen Bewußtseins charak-
terisieren:
a) Neu ist die Allseitigkeit und Präzision der Forschungsmethoden, der Sinn für das un-
endlich verwickelte Gewebe der Kausalfaktoren, und dann für die Objektivierung in
ganz anderen als kausalen Kategorien, in morphologischen Strukturen, in Sinngeset-
zen, in idealtypischen Gebilden.
Gern lesen wir zwar auch heute einfach erzählende Darstellungen. Wir wollen
durch sie den Raum unserer inneren Anschauung mit Bildern erfüllen. Aber wesent-
lich für unsere Erkenntnis wird die Anschauung erst mit den Analysen, die man heute
unter dem Namen Soziologie zusammenfaßt. Repräsentant ist Max Weber mit seinem
Werk, seiner klaren und alldimensionalen Begrifflich|keit in diesem weitesten Hori-
zont der Geschichtsanschauung ohne Fixierung eines Totalbildes. Heute liest, wer sol-
ches Denken kennt, viele Seiten Ranke’s schon mit Widerstreben wegen der Unbe-
stimmtheit der Begriffe. Das eindringende Begreifen erfordert mannigfache Sachkunde
und ihr Zusammentreffen in Fragestellungen, die als solche schon erleuchten. Dabei
hebt die alte Methode des Vergleichens durch ihre jetzt gewonnene Schärfe das Ein-
malige um so eindrucksvoller heraus. Die Vertiefung in das eigentliche Geschichtli-
che bringt das Geheimnis des Einmaligen zu hellerem Bewußtsein.
b) Heute wird überwunden die Haltung zur Geschichte, die in ihr ein übersehbares
Ganzes weiß. Kein abschließender historischer Totalentwurf darf uns noch aufnehmen.
Wir beziehen kein endgiltiges, sondern nur ein jeweils mögliches, wieder zerbrechen-
des Gehäuse des Geschichtsganzen.108
Wir finden ferner keine historisch lokalisierte Offenbarung des absolut Wahren.
An keiner Stelle liegt das, was identisch zu wiederholen wäre. Die Wahrheit liegt im
nie gewußten Ursprung, von dem her gesehen alles Besondere in der Erscheinung be-
schränkt ist. Wir wissen: Wo immer wir auf Wege historischer Verabsolutierung gera-
ten, wird eines Tages die Falschheit sich zeigen und der schmerzvolle Rückschlag des
Nihilismus befreien zu neuem ursprünglichen Denken.
Trotzdem: wir haben nicht, aber wir suchen jederzeit ein erinnerndes Wissen um
die Gesamtgeschichte, in der wir an einem einmaligen Augenblick stehen. Das Ge-
samtbild gibt unserem Bewußtsein jeweils den Horizont.
Heute in dem Bewußtsein des Verhängnisses neigen wir dazu, nicht nur relative
Geschlossenheit einzelner Entwicklungen der Vergangenheit, sondern die ganze bis-

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