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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0050
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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| 1. Die Achsenzeit

Geschichtsphilosophie hatte im Abendland ihren Grund im christlichen Glauben. In
den großartigen Werken von Augustin bis Hegel sah dieser Glaube den Gang Gottes in
der Geschichte. Gottes Offenbarungshandlungen sind die entscheidenden Einschnitte.
So sagte noch Hegel: Alle Geschichte geht zu Christus hin und kommt von ihm her; die
Erscheinung des Gottessohns ist die Achse der Weltgeschichte.8 Für diese christliche
Struktur der Weltgeschichte ist unsere Zeitrechnung die tägliche Bezeugung.
Der christliche Glaube aber ist ein Glaube, nicht der Glaube der Menschheit. Der
Mangel ist, daß solche Ansicht der Universalgeschichte nur für gläubige Christen
Geltung haben kann. Aber auch im Abendland hat der Christ seine empirische Ge-
schichtsauffassung nicht an diesen Glauben gebunden. Ein Glaubenssatz ist ihm
nicht ein Satz empirischer Einsicht in den wirklichen Gang der Geschichte. Die hei-
lige Geschichte trennte sich dem Christen als sinnverschieden von der profanen. Auch
der gläubige Christ konnte sogar die christliche Überlieferung selber wie andere empi-
rische Gegenstände untersuchen.
Eine Achse der Weltgeschichte, falls es sie gibt, wäre empirisch als ein Tatbestand zu
finden, der als solcher für alle Menschen, auch die Christen, gültig sein kann. Diese
Achse wäre dort, wo geboren wurde, was seitdem der Mensch sein kann, wo die über-
wältigendste Fruchtbarkeit in der Gestaltung des Menschseins geschehen ist in einer
Weise, die für das Abendland und Asien und alle Menschen, ohne den Maßstab eines
bestimmten Glaubensinhalts, wenn nicht empirisch zwingend und einsehbar, doch
aber auf Grund empirischer Einsicht überzeugend sein könnte, derart, daß für alle Völ-
ker ein gemeinsamer Rahmen geschichtlichen Selbstverständnisses erwachsen würde.
Diese Achse der Weltgeschichte scheint nun rund um 500 vor Christus zu liegen, in
dem zwischen 800 und 200 stattfindenden geistigen Prozeß. Dort liegt der tiefste Ein-
schnitt der Geschichte. Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben. Diese
Zeit sei in Kürze die »Achsenzeit« genannt.

| a. Charakteristik der Achsenzeit

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In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und
Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti,
Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere, - in Indien entstanden die Upanischa-
den, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis
zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, - in
 
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