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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0282
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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Wohin ich gehöre, wofür ich lebe, das erfahre ich erst im Spiegel der Geschichte.
»Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleibt im Dun-
keln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben« - das bedeutet ein Sinnbewußtsein, dann
ein Ortsbewußtsein (Orientierung) und vor allem ein Substanzbewußtsein.
Es ist erstaunlich, daß uns die Gegenwärtigkeit entschwinden kann, daß wir die
Wirklichkeit verlieren können, weil wir gleichsam immer anderswo leben, phanta-
stisch leben, in der Historie leben, die volle Gegenwärtigkeit meiden.
Ohne Recht aber steht dagegen die Gegenwärtigkeit des bloßen Augenblicks, das
Leben im Jetzt ohne Erinnerung und Zukunft. Denn dieses Leben ist der Verlust der
menschlichen Möglichkeiten in einem immer leerer werdenden Jetzt, in dem nichts
mehr von der Fülle des Jetzt aus der ewigen Gegenwart geblieben ist.
Das Rätsel des erfüllten Jetzt wird nie gelöst, aber vertieft durch das geschichtliche
Bewußtsein. Die Tiefe des Jetzt wird offenbar nur ineins mit Vergangenheit und Zukunft,
mit Erinnerung und mit der Idee, woraufhin ich lebe. Darin bin ich der ewigen Gegen-
wart gewiß durch geschichtliche Gestalt, durch Glauben im geschichtlichen Kleide.
Oder kann ich doch der Geschichte entrinnen, ihr entweichen ins Zeitlose?

| 5. ÜBERWINDUNG DER GESCHICHTE

Wir haben uns vergegenwärtigt: Die Geschichte ist nicht vollendet, - das Geschehen
birgt in sich unendliche Möglichkeiten, - jede Gestaltwerdung der Geschichte zu ei-
nem gewußten Ganzen wird durchbrochen, das Erinnerte zeigt durch neue Daten
vorher unbemerkte Wahrheit; was als unwesentlich wegfiel, gewinnt übergreifende We-
sentlichkeit. Ein Abschluß der Geschichte erscheint unmöglich, es geht aus dem End-
losen ins Endlose, und nur eine äußere Katastrophe kann sinnfremd alles abbrechen.
Ein Ungenügen an der Geschichte überfällt uns. Wir möchten hindurchdringen
durch die Geschichte auf einen Punkt vor und über aller Geschichte, auf den Seins-
gründ, vor dem die gesamte Geschichte zur Erscheinung wird, die niemals in sich
»stimmen« kann, dorthin, wo wir gleichsam in der Mitwissenschaft mit der Schöp-
fung111 nicht mehr ganz und gar an die Geschichte verfallen sind.
Aber für uns kann es nie den gewußten archimedischen Punkt außerhalb der Ge-
schichte geben. Wir sind immer darin. Im Durchdringen auf das Vor oder Quer oder
Nach aller Geschichte, in das Umgreifende von allem, in das Sein selbst, suchen wir in
unserer Existenz und in der Transzendenz, was dieser archimedische Punkt wäre, wenn
er die Gestalt gegenständlichen Wissens annehmen könnte.
 
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