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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0281
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248

Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

ner Verwirrung in die andere, von einem Unheil in das andere, mit kurzen Lichtblik-
ken des Glücks, mit Inseln, die vom Strom eine Weile verschont bleiben, bis auch sie
überflutet werden, alles in allem, mit einem Bilde Max Weber’s: die Weltgeschichte ist
wie eine Straße, die der Teufel pflastert mit zerstörten Werten.109
So gesehen hat die Geschichte keine Einheit, damit keine Struktur und keinen Sinn
als nur in den unübersehbar zahlreichen kausalen Verkettungen und Gestaltungen,
wie sie auch im Naturgeschehen vorkommen, nur daß sie in der Geschichte viel un-
exakter sind.
Geschichtsphilosophie aber bedeutet, solche Einheit, solchen Sinn, die Struktur der
Weltgeschichte zu suchen - und diese kann nur die Menschheit im Ganzen betreffen.
333 | (e) Geschichte und Gegenwart werden uns untrennbar
Das geschichtliche Bewußtsein steht in einer Polarität: Ich trete vor der Geschichte zu-
rück, sehe sie als ein Gegenüber, wie ein fernes großes Gebirge im Ganzen, in ihren
Hauptlinien und ihren besonderen Erscheinungen. Oder ich werde der Gegenwärtig-
keit im Ganzen inne, des Jetzt, das ist und worin ich bin, und in dessen Vertiefung mir
die Geschichte zur Gegenwart wird, die ich selber bin.
Beides ist notwendig, die Objektivität der Geschichte als das Andere, das auch ohne
mich ist, und die Subjektivität des Jetzt, ohne die jenes Andere für mich keinen Sinn
hat. Eins wird durch das Andere erst recht lebendig. Jedes für sich allein läßt die
Geschichte unwirksam werden, entweder als endlosen Wissensinhalt von Beliebigem
oder als Vergessensein.
Wie aber ist die Verbindung beider? Durch keine rationale Methode. Vielmehr kon-
trolliert die Bewegung des einen die des anderen, indem sie sie zugleich erregt.
Diese Grundsituation im geschichtlichen Bewußtsein bestimmt die Weise der
Überzeugung von der Struktur der Geschichte im Ganzen. Auf diese zu verzichten ist
unmöglich, denn sie wird sich dann nur unbewußt und unkontrolliert unserer An-
schauung bemächtigen. Sie zu vollziehen aber, bringt sie als Gewußtsein in die
Schwebe, während sie doch ein Faktor unseres Seinsbewußtseins ist.
Während Forschung und Existenz mit ihrem Seinsbewußtsein in Spannung zuein-
ander sich vollziehen, lebt die Forschung selber in der Spannung des je Ganzen und
des Kleinsten. Geschichtliches Totalbewußtsein in Verbindung mit liebender Nähe
zum Besonderen vergegenwärtigt eine Welt, in der der Mensch als er selbst mit seinem
Grunde leben kann. Offenheit in die Weite der Geschichte und Selbstidentität mit dem
Gegenwärtigen, Innewerden der Geschichte im Ganzen und Leben aus gegenwärti-
gem Ursprung, in diesen Spannungen wird der Mensch möglich, der, zurückgeworfen
in seine absolute Geschichtlichkeit,110 zu sich selbst gekommen ist.
Universales Geschichtsbild und gegenwärtiges Situationsbewußtsein tragen sich
334 gegenseitig. Wie ich das Ganze der | Vergangenheit sehe, so erfahre ich das Gegenwär-
tige. Je tieferen Grund im Vergangenen ich gewinne, desto wesentlicher meine Teil-
nahme am gegenwärtigen Gang der Dinge.
 
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