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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0276
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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keit aller Menschen im möglichen Verstehen. Die Einheit liegt aber noch nicht in ei-
nem Gewußten, Gestalteten, Bezweckten, noch nicht im Bild eines Ziels, sondern in
allem diesen nur, wenn es eintritt in die Kommunikation des Menschen mit dem Men-
schen. Dann ist die letzte Frage:
Liegt die Einheit der Menschheit in der Einigung auf einen gemeinsamen Glauben,
in der Objektivität des gemeinsam für wahr Gedachten und Geglaubten, in einer Or-
ganisation der einen ewigen Wahrheit durch eine erdumspannende Autorität?
Oder ist die für uns Menschen in Wahrheit erreichbare Einheit nur die Einheit
durch Kommunikation der geschichtlich vielfachen Ursprünge, die sich gegenseitig
angehen, ohne in der Erscheinung von Gedanke und Symbol identisch zu werden, -
die Einheit, die | vielmehr in der Mannigfaltigkeit das Eine verborgen bleiben läßt, - 32 6
das Eine, das nur noch im Willen zu grenzenloser Kommunikation wahr bleiben kann
als unendliche Aufgabe im unabschließbaren Versuch der menschlichen Möglichkei-
ten?
Alle Behauptungen von absoluter Fremdheit von dem Sich-nie-verstehen-können
bleiben Ausdruck von Resignation in der Ermüdung, von Versagen vor dem tiefsten
Anspruch des Menschseins, - eine Übersteigerung augenblicklicher Unmöglichkeiten
zu absoluten Unmöglichkeiten, ein Erlöschen der inneren Bereitschaft*.
Die Einheit der Geschichte wird als Einsgewordensein der Menschheit nie vollendet
sein. Die Geschichte liegt zwischen Ursprung und Ziel, in ihr wirkt die Idee der Ein-
heit. Der Mensch geht seinen großen Weg der Geschichte, aber schließt ihn nicht ab
in einem verwirklichten EndzieL Die Einheit der Menschheit ist vielmehr die Grenze
der Geschichte. Das heißt: die erreichte, vollendete Einheit wäre das Ende der Ge-
schichte. Geschichte bleibt die Bewegung unter Führung von Einheit mit Vorstellun-
gen und Gedanken von Einheit.
In solchen Vorstellungen ist die Einheit: Als ob die Menschheit aus einem Ursprung
stamme, aus dem sie in unendlicher Sonderung erwachsen ist, und zur Wiederverei-
nigung des Getrennten dränge. Aber der eine Ursprung liegt empirisch völlig im Dun-
kel. Wo immer wir den Menschen kennen lernen, ist er schon in der Zerstreuung und
Unterschiedenheit der Individuen und der Rassen; wir sehen mehrere Kulturentwick-
lungen, mehrfache Anfänge, denen eine schon menschliche Entwicklung vorherge-
gangen sein muß, die wir nicht kennen. - Einheit führt uns als Vorstellung eines sich
in der Gegenseitigkeit der Vielen vollendenden Gebildes. Aber alle solche Vorstellun-
gen sind unbestimmt.

Es handelt sich um die große Polarität: Katholizität und Vernunft, vgl. mein Werk Von der Wahr-
heit, München 1948, S. 832-868.
 
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