Metadaten

Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0102
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Vom Ursprung und Ziel der Geschichte 69
Damit aber ist auch die Loslösung vom Grunde der Natur und der menschlichen
Gemeinschaft - seit den Sophisten - möglich geworden, ein Hineintreten ins Leere.
Der abendländische Mensch hat in höchster Freiheit die Grenze der Freiheit im Nichts
erfahren. In entschiedenstem Selbstsein erfuhr er gerade das Sichgeschenktwerden
dessen, was er in falscher Fixierung als bloßes Ich ganz auf sich selbst stellen zu kön-
nen meinte, als ob der Mensch Anfang und Schöpfer sei.
5) Dem Abendländer ist immer wieder die Welt in ihrer Realität das Unumgängliche.
Das Abendland kennt zwar wie die anderen großen Kulturen die Spaltung des
Menschseins: einerseits das Leben in Wildheit, andererseits die weltlose Mystik, - ei-
nerseits die Unmenschen, andererseits die Heiligen. Das Abendland aber macht den
Versuch, statt solcher Spaltung den Aufstieg in der Weltgestaltung | selbst zu finden,
das Wahre nicht nur in einem Idealreich anzuschauen, sondern zu verwirklichen,
durch Ideen die Steigerung der Wirklichkeit selbst zu gewinnen.
Das Abendland kennt mit einzigartiger Eindringlichkeit die Forderung, die Welt
gestalten zu sollen. Es fühlt den Sinn der Weltwirklichkeit, der die unendliche Aufgabe
bedeutet, nämlich das Erkennen, das Schauen, das Verwirklichen in ihr selbst aus ihr
zu vollziehen. Die Welt ist nicht zu überspringen. In ihr, nicht außer ihr vergewissert
sich der abendländische Mensch.
Damit ist eine Erfahrung der Weltwirklichkeit möglich geworden, die das Scheitern
kennt in dem tiefen Sinne, der an kein Ende der Deutung kommt. Das Tragische wird
Wirklichkeit und Bewußtsein zugleich. Nur das Abendland kennt die Tragödie.
6) Das Abendland verwirklicht wie alle Kulturen Gestalten eines Allgemeinen. Aber
dieses Allgemeine gerinnt ihm nicht zur dogmatischen Festigkeit von endgiltigen Institu-
tionen und Vorstellungen, weder zu einem Leben im Kastensystem, noch zu einem
Leben in einer kosmischen Ordnung. Das Abendland wird in keinem Sinne stabil.
Die bewegenden Kräfte der unabsehbaren abendländischen Dynamik erwachsen
den »Ausnahmen«, die im Abendland das Allgemeine durchbrechen. Das Abend-
land gibt der Ausnahme Raum. Es läßt ein jeweils absolut neues Leben und Schaffen
zu - das es dann ebenso radikal vernichten kann. Es gelingt eine Höhe des Mensch-
seins, die keineswegs die Teilnahme aller gewinnt, der auch vielleicht kaum jemand
nachfolgt. Aber diese Höhen geben wie leuchtende Wegweiser dem Abendland eine
vieldimensionale Orientierung. Darin wurzelt die ständige Unruhe des Abendlan-
des, sein ständiges Ungenügen, seine Unfähigkeit, in einer Vollendung zufrieden
zu sein.
So erwuchsen als ein Äußerstes in scheinbar zufälligen Situationen die Möglichkei-
ten, die wie Unmöglichkeiten erscheinen, so die prophetische Religion der Juden in
der Ohnmacht zwischen kämpfenden Imperien, in der Preisgegebenheit an Mächte,
gegen die jeder Kampf vergeblich war, im politischen Untergang. So erblühte am Rande
der Welt politischer Mächte die gegen staatliche Reglementierung sich sträubende nor-
dische Kultur und Gesinnung der Isländer.

90
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften