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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0101
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

1) Schon geographisch besteht ein großer Unterschied. Das Abendland ist gegenüber
den geschlossenen Festlandsgebieten Chinas und Indiens durch eine außerordentli-
che Mannigfaltigkeit charakterisiert. Die reiche Gliederung in Halbinseln, Inseln, in
Gebiete der Wüste und der Oasen, des Mittelmeerklimas und der nordalpinen Welt,
die vergleichsweise viel größere Länge der Küsten geht parallel der Mannigfaltigkeit
der Völker und Sprachen, die hier Geschichte gemacht haben, indem sie sich in der
Rolle führenden Handelns und Schaffens ablösten. Die Länderund Völker des Abend-
landes zeigen ein eigenes Bild.
Der geistige Charakter des Abendlandes kann nun weiter in einer Reihe von Zügen
umrissen werden:
2) Das Abendland kennt die Idee der politischen Freiheit. In Griechenland erwuchs,
wenn auch nur vorübergehend, eine Freiheit, die nirgends sonst in der Welt entstanden
war. Eine Schwurbrüderschaft freier Menschen setzte sich durch gegen universale Des-
potie einer Völker beglückenden Totalorganisation. Damit legte die Polis den Grund al-
len abendländischen Freiheitsbewußtseins, sowohl der Wirklichkeit der Freiheit wie des
Freiheitsdenkens. China und Indien kennen in diesem politischen Sinne keine Freiheit.
Ein Glanz strahlt von da und ein Anspruch durch unsere abendländische Ge-
schichte. Es ist der große Wendepunkt, als vom 6. Jahrhundert ab die Freiheit griechi-
schen Denkens, griechischer Menschen, griechischer Polis erwuchsen und als dann
in den Perserkriegen die Freiheit sich bewährte und sich zu ihrer höchsten, wenn auch
kurzen Blüte brachte. Keine universale priesterliche Kultur, nicht Orphik und Pytha-
goräertum, sondern freie Staatsbildungen konstituierten den griechischen Geist und
89 eine unge|heure Chance und Gefahr des Menschen. Seitdem gibt es die Möglichkeit
der Freiheit in der Welt.
3) Eine nirgends Halt machende Rationalität hält sich offen für den Zwang des kon-
sequenten logischen Gedankens und der empirischen Tatsächlichkeit, wie sie jeder-
mann und jederzeit einsichtig sein müssen. Schon die griechische Rationalität hat ge-
genüber dem Osten einen Zug der Konsequenz, der die Mathematik begründet und
die formale Logik vollendet hat. Durchschlagend anders als der Osten wurde die mo-
derne Rationalität mit dem Ende des Mittelalters. Wissenschaftliche Forschung geht
hier kritisch auf endgültige Ergebnisse im Besonderen, bei ständiger Unfertigkeit im
Ganzen, einen unendlichen Weg. Im Verkehr der Gesellschaft wird die allgemeine
Berechenbarkeit des Lebens im Voraussehen rechtlicher Entscheidungen durch den
Rechtsstaat auf ein Maximum zu treiben gesucht. In wirtschaftlicher Unternehmung
wird die exakte Kalkulation maßgebend für jeden Schritt.
Damit aber auch erfährt das Abendland die Grenze der Rationalität mit einer Klar-
heit und Wucht, wie sie in der Welt sonst nirgends aufgetreten ist.
4) Die bewußte Innerlichkeit persönlichen Selbstseins gewinnt in jüdischen Propheten,
griechischen Philosophen, römischen Staatsmännern eine für immer maßgebende
Unbedingtheit.
 
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