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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0105
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

gewichtige, bewunderte Macht, sowohl politische Macht wie geistige Gewalt, ein
Raum des Lernens und der Verführung.
94 | Wir können den Gegensatz fassen als eine Gestalt des Sichspaltens alles Geistigen.
Der Geist lebt erst, gerät in Bewegung, wird fruchtbar, gewinnt seinen Aufschwung, wenn
er in Gegensätzen sich bewußt wird, im Kampfe sich findet. Aber der Gegensatz, der hier
vorliegt, ist ein geschichtlicher, seinem Gehalte nach nicht auf eine allgemeine Form zu
bringen, durch keine endlichen Bestimmungen in seinem Inhalt zu erschöpfen. Er ist wie
ein tiefes, geschichtliches Geheimnis, das durch die Zeiten geht. In mannigfachen Mo-
difikationen ist die ursprüngliche Polarität durch die Jahrhunderte lebendig geblieben.
Die Griechen und die Perser, die Spaltung des römischen Imperiums in das
Westreich und das Ostreich, westliches und östliches Christentum, das Abendland und
der Islam, Europa und Asien, das sich seinerseits in vorderen, mittleren und fernen
Orient gliedert, sind die einander folgenden Gestalten des Gegensatzes, in dem die
Kulturen und Völker sich zugleich anziehen und abstoßen. Darin hat sich jederzeit Eu-
ropa konstituiert, während der Orient den Gegensatz von Europa erst übernahm und
seinerseits europäisch verstand. -
Eine objektive historische Analyse zeigt nun zwar den Vorrang des Abendlandes an
weltgestaltender Wirkung, aber zugleich seine Unvollendung und seinen Mangel, von
dem her die Frage an den Orient immer neu und fruchtbar bleibt: was finden wir dort,
das uns ergänzt? was wurde dort wirklich und was wurde Wahrheit, das wir versäumt
haben? was sind die Kosten unseres Vorrangs?
Zwar hat das Abendland zurück in die Tiefe der Zeit die längste verläßliche ge-
schichtliche Überlieferung. Nirgends auf der Erde ist frühere Geschichte als im
Zweistromland und in Ägypten. Das Abendland hat in den letzten Jahrhunderten der
Erde das Gepräge gegeben. Das Abendland hat die reichste, klarste Gliederung seiner
Geschichte und seiner Schöpfungen, die sublimsten Kämpfe des Geistes, die größte
Fülle anschaulich sichtbarer großer Menschen.
Von hier aus gesehen, stellen wir überall die Frage: welche Ansätze sind im Orient
von dem, was das Abendland geleistet hat, von Wissenschaft, rationaler Methodik,
P5 persönlichen Selbst| seins, von Staatlichkeit, von Wirtschaftsordnung kapitalistischen
Gepräges usw.? Wir suchen dann nach dem, was dem Abendland identisch ist, und
fragen, warum es im Orient nicht zur Entfaltung kam.
Wir geraten unter die Suggestion, daß wir in Asien eigentlich gar nichts Neues ken-
nenlernen. Es ist das uns schon Bekannte, nur mit anderen Betonungen. Die europä-
ische Selbstgenügsamkeit hat wohl dazu geführt, dieses Fremde nur als Kuriosum zu
betrachten - daß nämlich auch dort gedacht sei, was klarer bei uns gedacht wurde,
oder dazu, daß man resigniert meint, wir verständen doch nur das uns Eigene, nicht
das dort Ursprüngliche.
 
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