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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0073
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

zeitmenschen werden könnten, weil wir es jederzeit noch sind. Wir würden statt mit
Steinbeil mit Flugzeugen umgehen, aber es wäre wieder dasselbe da, was war, als ob die
Jahrtausende der Geschichte vergessen und ausgelöscht seien. Der Mensch könnte
beim Verfall der Geschichte wieder in den Zustand kommen, in dem er - immer noch
und schon Mensch - vor Jahrtausenden war: ohne Wissen und Bewußtsein seiner
Überlieferung.
Wir wissen nichts von der Seele des Menschen vor 20000 Jahren. Aber wir wissen,
daß jedenfalls im Laufe der bekannten Geschichte, in dieser kurzen Frist, der Mensch
im Ganzen sich biologisch und psychophysisch, daß er sich in seinen elementaren,
unbewußten Antrieben nicht nachweisbar verändert hat (es handelt sich ja auch nur
um etwa 100 Generationen).
Das Ergebnis des vorgeschichtlichen Werdens ist etwas biologisch Vererbbares,
insofern etwas durch alle geschichtlichen Katastrophen hindurch Gesichertes. Der
Erwerb der Geschichte dagegen ist an Überlieferung gebunden und kann verloren
gehen. Was geistig, in Sprüngen des Schaffens, in die Menschenwelt gesetzt wird, dann
durch Überlieferung die Erscheinung des Menschen prägt und verändert, ist an diese
Überlieferung so weit gebunden, daß es ohne sie, weil biologisch nicht vererbbar, wie-
der ganz versinken könnte: die Grundkonstitution wäre wieder unmittelbar da.
Für das geschichtliche Bewußtsein bleibt nun die große Frage nach dem Grund-
stock des Menschen aus der Zeit vor der Geschichte, nach diesem Tragenden und Uni-
versalen des Menschseins. Im Menschen ist ein Untergrund wirksamer Mächte aus den
Zeiten seiner Prägung. Die Vorgeschichte ist die Zeit, in der diese Natur des Menschen
geworden ist. Würden wir diese Vorgeschichte kennen können, so würden wir Einsicht
51 in eine Grund | Substanz des Menschseins gewinnen dadurch, daß wir ihr Werden
erblicken, die Bedingungen und Situationen, die ihn so gestalteten, wie er ist.
Die Fragen, die eine Vorgeschichte beantworten könnte, wenn sie empirisch er-
reichbar wäre, sind:
Welches sind die elementaren Motive des Menschen, welches seine vitalen An-
triebe? Welche sind durch alle Zeiten gleich, welche wandeln sich? Sind sie noch trans-
formierbar? Sind sie durchweg verschleiert? Sind diese Antriebe erst in der Geschichte
oder schon durch Ordnungen der Vorgeschichte gebändigt? Brechen sie von Zeit zu
Zeit oder in gewissen Situationen durch, zerreißen den Schleier? Wann und wie ist das
geschehen? Werden sie stärker als jemals ausbrechen, wenn alles Geglaubte und Über-
lieferte zusammenbricht? Was wird aus ihnen, wenn sie geformt werden? Wie sind sie
formbar? Was wird aus ihnen, wenn ihnen die Sprache und jegliche direkte Auswir-
kung genommen wird, etwa in einer Verschleierung, die eine Lähmung durch Auffas-
sungsschemata, Weltbilder, Wertsetzungen, Vergewaltigung bedeutet?
Das verschwindend Wenige, das wir aus der Vorgeschichte wissen, dann die Bilder,
die sich uns in Verbindung mit Ethnographie, Volkskunde und Geschichte ergeben,
und die wir zu einer psychologischen Vergegenwärtigung der menschlichen Urtriebe
 
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