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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0252
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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Die Geschichte der Natur ist ihrer selbst nicht bewußt. Sie ist ein bloßes Gesche-
hen, das sich nicht weiß, sondern von dem erst der Mensch weiß. Bewußtsein und Ab-
sicht sind nicht ein Faktor dieses Geschehens.
An menschlichen Maßen ist diese Geschichte von sehr langsamem Verlauf. Der
Vordergrundsaspekt für die Maße menschlichen Lebens ist vielmehr die Wiederholung
des Gleichen. Die Natur ist in diesem Sinne ungeschichtlich1.
Es ist daher eine Verführung unseres in Kategorien der Natur gewohnten Denkens,
die Geschichte selber noch nach Analogie von Naturgeschehen zu betrachten:
1) Wir haben eine Vorstellung vom endlosen Kommen und Gehen, vom Unterge-
hen und Sichwiederholen, - in der endlosen Zeit ist für alles eine Chance, aber kein
durch die Zeit hindurchgehender Sinn. Bei solcher Vorstellung gibt es keine eigentli-
che Geschichte.
| 2) Der Lebensprozeß läßt den Menschen als eine Spezies der Tiere entstehen. Der 293
Mensch breitet sich über die Erdoberfläche aus, wie auch andere, nicht alle Lebensfor-
men.
3) Die Menschheit im Ganzen ist ein Lebensprozeß. Sie wächst, blüht, wird reif, al-
tert und stirbt. Dies aber stellt man sich vor nicht nur als einmaligen Menschheitspro-
zeß, sondern als mehrmaligen, vielfachen Prozeß der menschlichen Kulturen, nach-
einander und nebeneinander. Aus dem amorphen Material der natürlichen Menschheit
erwachsen Kulturen als Geschichtskörper mit gesetzmäßigem Ablauf, mit Lebenspha-
sen, mit Anfang und Ende. Es sind die Kulturen gleichsam Organismen, die aus eige-
nem ihr Leben haben, sich gegenseitig nichts angehen, aber in Berührung miteinan-
der sich modifizieren oder stören.
In den Fesseln solcher Anschauungen durch Kategorien des Naturgeschehens wird
aber die eigentliche Geschichte nicht sichtbar.
b. Vererbung und Tradition
Wir Menschen sind zugleich Natur und Geschichte. Unsere Natur zeigt sich in der Ver-
erbung, unsere Geschichte in der Tradition. Der Stabilität durch die Vererbung, die uns
als Naturwesen Jahrtausende lang gleich erscheinen läßt, steht gegenüber die Gefähr-

Aber auch das, was in der Geschichte der Natur unumkehrbar, endgiltig, einmalig ist, besitzt nicht
das, was wir im Menschen »Geschichtlichkeit«99 nennen.
Die menschliche Geschichte gewinnt einen wesentlichen Sinn erst aus der »Geschichtlichkeit«
der »Existenz«. Sie hat zu ihrem Grunde wohl ein Geschehen, das dem Naturgeschehen analog
ist. Aber dieser Grund ist nicht ihr Wesen.
Die objektivierenden Kategorien eines Naturgeschehens treffen nicht das Sein von Geist und
Existenz des Menschen, für deren verstehende Erfahrung grundsätzlich andere objektivierende
Kategorien angemessen sind.
Über »Geschichtlichkeit« vgl. meine Philosophie, Berlin 1932, Bd. II, S. 118 ff. Zweite Auflage
1948, Seite 397 ff.
 
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