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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0253
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

detheit unserer Tradition: das Bewußtsein kann absinken, kein geistiger Erwerb von
Jahrtausenden ist unser verläßlicher Besitz.
Der Geschichtsprozeß kann abreißen durch Vergessen, durch Verschwinden des
geschichtlich Erworbenen. Auch die fast bewußtlose Stabilität der Lebens- und Den-
kungsart durch Gewohnheit und unbefragten Glauben, welche im Gesamtzustand der
allgemeinen gemeinschaftlichen Verhältnisse täglich geformt wird und anscheinend
in der Tiefe fixiert ist, gerät ins Schwanken durch bloße Änderung jenes Gesamtzu-
standes. Dann löst sich der Alltag von der Überlieferung, hört das geschichtlich er-
wachsene Ethos auf, zerbröckelt die Lebensform, erwächst die absolute Unverläßlich-
keit. Der atomisierte Mensch wird beliebige Masse ungeschichtlicher Anhäufung von
294 Leben, das aber als mensch|liches Leben in Unruhe und Angst, sei es offen, sei es ver-
borgen, verschleiert durch vitale Kraft seines Daseins dahinlebt.
Kurz, wir sind Mensch noch nicht durch Vererbung, sondern immer erst durch den
Gehalt einer Tradition. In der Vererbung besitzt der Mensch etwas praktisch Unzer-
störbares, in der Tradition etwas absolut Verlierbares.
Tradition führt in den Grund der Vorgeschichte zurück. Sie umfaßt alles, was nicht
biologisch vererbbar, aber geschichtliche Substanz des Menschseins ist.
Die lange Vorgeschichte, die kurze Geschichte, - was kann dieser Unterschied be-
deuten?
Es steht am Anfang der Geschichte, aus der Vorgeschichte erworben, gleichsam
ein Kapital des Menschseins, das nicht vererbbare biologische, sondern geschichtliche
Substanz ist, ein Kapital, das wachsen oder vergeudet werden kann. Es ist etwas, das vor
allem Denken wirklich ist, was nicht zu machen und nicht absichtlich hervorzubrin-
gen ist.
Diese Substanz wird erst erfüllt und klar durch die in der Geschichte sich vollzie-
hende geistige Bewegung. In ihr geht sie Verwandlungen ein. Vielleicht treten in der
Geschichte neue Ursprünge auf, die als Wirklichkeiten - das größte Beispiel: die Ach-
senzeit - wiederum Voraussetzungen sind. Aber das geschieht alles nicht im Ganzen
mit den Menschen, sondern nur in der Höhe Einzelner, blühend und wieder verges-
sen, mißverstanden und verloren.
Es ist eine Richtung in der Geschichte auf Loslösung von den substantiellen Vor-
aussetzungen, von der Tradition auf den Punkt des bloßen Denkens, als ob aus diesem
Substanzlosen der ratio etwas hervorgebracht werden könnte. Es ist die Aufklärung,
die, sich selbst verkehrend, nichts mehr aufklärt, sondern ins Nichts führt.

c. Geschichte und Kosmos

Warum leben wir und vollziehen unsere Geschichte im unendlichen Raum gerade an
dieser Stelle, auf einem verschwindenden Stäubchen des Weltalls, wie in einem abge-
295 legenen Winkel, warum in der unendlichen Zeit gerade jetzt? Was ist geschehen, | daß
 
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