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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0213
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

ihre Schöpfungen, ihre Vergänglichkeit, ihr Absinken in die Vergessenheit kennen, aus
der uns nur Bruchstücke erlauben, das Gewesene zu einem winzigen Teil zu erinnern
und zu vergegenwärtigen. Wenn vereinzelte Kausalverhältnisse und Sinnbeziehungen
in historischer Forschung fortschreitend sichtbar werden, so begreifen wir doch den
geschichtlichen Prozeß im Ganzen nicht, weder die erste Entstehung, noch irgendei-
nen der schöpferischen Schritte, noch eine das Ganze übergreifende Notwendigkeit.
Ein historischer Totalprozeß ist oft den Menschen vor Augen gestanden, für den
Offenbarungsglauben als Gang von Adams Fall bis zum Endgericht, für eine empiri-
sche Auffassung als Fortschritt des Wissens und Könnens, Veränderung der Arbeits-
technik und der Gesellschaft, für einige Philosophen als Fortschritt im Bewußtsein der
Freiheit und ihre Verwirklichung,28 oft unter der Idee einer Vollendung in der Welt
oder eines Endes der Welt. Dann gilt der Gang der Geschichte als ein notwendiger. Ihm
gegenüber als einem ohne mich bestimmten, unausweichlichen Prozeß habe ich nur
die Wahl, das Notwendige mit zu tun, oder als nichtig beiseite geworfen zu werden.
Aber wir begreifen uns keineswegs aus der Geschichte. Wäre sie ein notwendiger
(geistiger oder materieller) Prozeß, dann würden Menschen nicht in ihn eingreifen und
ihn ändern, höchstens beschleunigen und verlangsamen können, was eine gleichgül-
tige Sache wäre. Aber diese Eingriffe, die großen verwandelnden geistigen Schöpfungen
beruhen auf der Freiheit des Menschen. Sie sind nicht von der Geschichte gemacht, son-
dern entspringen der Freiheit selber und werden ihrerseits zu Faktoren der Geschichte.
27 | Was Menschen wollen und wollen werden, kann nie im Ganzen gewußt sein. Wir
können nicht als Erkennende außerhalb oder über dem Ganzen stehen. Gesamtüber-
blicke der Geschichte sind bestenfalls Schemata einer Idee des Ganzen. Aber auch diese
Idee des Ganzen ist niemals die Wirklichkeit der Geschichte selber.
Das Totalwissen von der Geschichte würde eine Totalplanung ermöglichen, und
der Mensch würde für den Menschen ein nach seinen Zwecken formbares und verwan-
delbares Material. Der Mensch würde über das Menschsein verfügen. Da dies die Preis-
gabe der menschlichen Freiheit voraussetzt, kann solches Machenwollen des Men-
schen ihn nur zerstören; es würde schließlich das Ende des Menschen herbeiführen.
Denn die Freiheit läßt sich nicht hervorbringen. Nur Bedingungen für sie können ent-
stehen oder geplant werden. Durch sie kann Freiheit möglich oder unmöglich werden.
Die Bedingungen mögen da sein, sie bringen nichts hervor. Die Freiheit kommt aus
anderem Ursprung. -
Die Beobachtung zeigt schließlich, daß Menschen unter den Lebewesen auf der
Erde und mit ihnen aus der Natur der Welt entstanden sein müssen. Aber die Herkunft
der Welt selber ist unbegreiflich. Die Forschung dringt in der Welt vor ins Unabseh-
bare, aber sie erfaßt nicht die Welt. Die Welt ist für die Forschung bodenlos.
Das menschliche Erkennen dringt in den Kosmos vor, in die Ferne bis zu den äu-
ßersten Sternnebeln, in die Nähe bis zum materiellen Ort im Gehirn, an den in der
Welt von Raum und Zeit das Bewußtsein, der Geist, die Freiheit gebunden sind. Das
 
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