Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0565
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
464

Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

(3) Kann der Mensch in der modernen Bodenlosigkeit wieder seinen Boden finden? - Im-
mer mehr Menschen erfahren, aus ihren überlieferten geschichtlichen Bedingungen
herausgerissen, die Qual der Bodenlosigkeit. Sie werden haltlos, wandern, nirgends
und überall zu Haus, zufällig hin und her gezogen. Sie erfahren die Ungeborgenheit
als das nunmehr Natürliche. Emigrantendasein wird zum Typus.
468 Geschichtlich war das Menschenleben gebunden an Rollen, in denen | die Einzel-
nen ihr Dasein hatten und mit denen sie sich identifizierten. Jetzt spielt der Mensch
viele Rollen und ist mit keiner identisch. Die geschichtlich erfüllten Rollen waren zwar
geistig längst angenagt und schließlich verzehrt, wenn die Relativität übermächtig
wurde. Jetzt aberzwingen die Daseinsbedingungen selber aus jeder Identifizierung mit
einer Rolle heraus. Ist das eine ungeheure Befreiung oder eine radikale Zerstörung?
Da der Mensch nicht er selbst sein kann ohne geschichtliche Erfüllung, ohne Kon-
tinuität seines Wesens in der Erscheinung, ist die Frage der Zukunft, in welcher Weise
in dem allgemeinen Treiben und Getriebenwerden sich solche Erfüllung für den Ein-
zelnen in seinen persönlichen Gemeinschaften wieder gewinnen läßt.
(4) Vergeblichkeit der Frage nach der Zukunft. - Was die Zukunft birgt, zeigt sich we-
der einem Wissen im Zusehen zum politisch-soziologisch-wirtschaftlichen Verlauf der
Dinge noch im philosophischen Gedanken über das, was sein solle.
Das Zukunftswissen großer Glaubensmächte mußte in der Realität einer völlig an-
deren Zukunft weichen. Die urchristliche Lebenspraxis des Glaubens, vor dem
Weitende, dem Gericht und dem Reiche Gottes zu stehen, wich der politischen Praxis
der nicht vorausgesehenen Kirche und dem Bunde des Unvereinbaren, des neutesta-
mentlichen Christus und der Verwirklichung der Kultur. Die historische Konstruktion
von Marx wich der Realität der totalen Herrschaft. In diesen wie anderen Fällen er-
kennt der spätere »Glaube« seine Verkehrung nicht an. Er sieht sie nicht oder deutet
sie als nebensächlich weg.
Die Zukunft wird bestimmt durch das, was Menschen auf Grund ihres Wissens pla-
nen und durch ihre Entschlüsse, welchen Weg im Labyrinth möglicher Wege sie je-
weils gehen wollen.
Wer Realitäten nicht sieht und sie nicht in die Gründe seines Entschlusses auf-
nimmt, gerät ins Leere. Wer die Freiheit des Entschlusses als entscheidenden Faktor
nicht erfährt und nicht anerkennt, der gerät in die Sklaverei unter gemeinte Realitäten.
Was Realität sei, ist die große, gar nicht endgültig zu beantwortende Frage. Daher
ist die Zukunft nicht nur ungewiß, sondern für die, die sie erfahren mit dem Wissen
traditioneller Erwartungen, durchweg völlig überraschend.
(5) Die Umwendung. - In der Situation, in der dem Menschen alles genommen und
er sich selbst in seiner Freiheit preiszugeben scheint, verstrickt ist in das totale Unheil
469 und seine eigene Schuld, ge| schah von jeher der Ruf zur Umkehr. So war es bei Plato,582
so war es in allen Phasen der biblischen Erfahrung bis zur Bußforderung des Neuen
Testaments (metanoeite).583
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften