Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
471
| Siebenter Teil
477
Können philosophischer Glaube und Offenbarungs-
glaube SICH TREFFEN?
Die Kirchen sind die Organisationen der Glaubensüberlieferung. Was in ihnen ge-
schieht, was und wie sie verkündigen, wie sie ihr Denken formen, wie sie ihre Symbole
gestalten, ihren Kultus vollziehen, das ist von größter Bedeutung für das gesamte Abend-
land. Dort könnte die Wahrhaftigkeit und der Ernst der Einzelnen den Boden einer gro-
ßen Gemeinschaft haben. Dort könnten, geschart um den Kultus, die Gläubigen, Pfar-
rer und Theologen bezeugen, wie sie in der Gegenwärtigkeit des Ewigen existieren.
Was aus den Kirchen wird, entscheidet vielleicht das Schicksal des Abendlandes.
In dem Maße als kirchliche Dinge zu Kulissen des Lebens werden, in Konventionen als
Gewohnheiten zu bloß äußerlicher Wiederholung sich verflachen, nimmt ihre Kraft
ab, auch wenn die meisten Menschen Kirchenmitglieder bleiben. Wächst dabei die
Unwahrhaftigkeit, so ist vollends der Boden zu jedem Unheil bereitet. Daher die große
Sorge um die Kraft und Wahrhaftigkeit des Glaubens in den Kirchen.
Philosophie ist im Unterschied vom Offenbarungsglauben ohne Organisation, ist
eine zerstreute Wirklichkeit in Einzelnen, ohne die Macht, die von dem Hintergrund
einer Kirche, eines Staats, einer Partei, einer strukturierten Massenbewegung ausgeht.
Was Philosophen denken, gilt daher als »privat«. Der Anspruch, in der philosophia per-
ennis zu stehen, mag von ihnen erhoben werden. Er wird nicht anerkannt.
Wer philosophiert, kann es nicht auf Grund einer Vollmacht tun, die ihm von ei-
ner Instanz in der Welt erteilt ist. Er tut es auf eigene Verantwortung vor einer Instanz,
die er sich selber setzt, indem er sie vorfindet im Philosophieren der Jahrtausende.
Wenn er von Möglichkeiten in den Kirchen spricht, so muß er | wissen, daß ihm 478
keinerlei Vollmacht eingeräumt wird. Aber es liegt in der Natur der Sache, daß er in der
Teilnahme an den ernsten Dingen, die in den Kirchen und durch sie geschehen oder
nicht geschehen, seine Gedanken dorthin richtet. Denn dort kann zur Geltung ge-
bracht werden, was das künftige Menschsein bestimmt.
Vielleicht kann er einen Raum des Möglichen erblicken und gar für einen Augen-
blick weiter sehen als das gewohnte Mitmachen mit dem Bestehenden es zuläßt. Viel-
leicht vermag sein Denken sogar zu helfen, wo ursprüngliche Ergriffenheit Einzelner
Klarheit in der Kirche sucht. Vielleicht kann er, wo ein Leben aus sich selber noch
dunklem Pneuma in das Licht drängt, ermutigen. Vielleicht gibt er begriffliche Mittel
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Können philosophischer Glaube und Offenbarungs-
glaube SICH TREFFEN?
Die Kirchen sind die Organisationen der Glaubensüberlieferung. Was in ihnen ge-
schieht, was und wie sie verkündigen, wie sie ihr Denken formen, wie sie ihre Symbole
gestalten, ihren Kultus vollziehen, das ist von größter Bedeutung für das gesamte Abend-
land. Dort könnte die Wahrhaftigkeit und der Ernst der Einzelnen den Boden einer gro-
ßen Gemeinschaft haben. Dort könnten, geschart um den Kultus, die Gläubigen, Pfar-
rer und Theologen bezeugen, wie sie in der Gegenwärtigkeit des Ewigen existieren.
Was aus den Kirchen wird, entscheidet vielleicht das Schicksal des Abendlandes.
In dem Maße als kirchliche Dinge zu Kulissen des Lebens werden, in Konventionen als
Gewohnheiten zu bloß äußerlicher Wiederholung sich verflachen, nimmt ihre Kraft
ab, auch wenn die meisten Menschen Kirchenmitglieder bleiben. Wächst dabei die
Unwahrhaftigkeit, so ist vollends der Boden zu jedem Unheil bereitet. Daher die große
Sorge um die Kraft und Wahrhaftigkeit des Glaubens in den Kirchen.
Philosophie ist im Unterschied vom Offenbarungsglauben ohne Organisation, ist
eine zerstreute Wirklichkeit in Einzelnen, ohne die Macht, die von dem Hintergrund
einer Kirche, eines Staats, einer Partei, einer strukturierten Massenbewegung ausgeht.
Was Philosophen denken, gilt daher als »privat«. Der Anspruch, in der philosophia per-
ennis zu stehen, mag von ihnen erhoben werden. Er wird nicht anerkannt.
Wer philosophiert, kann es nicht auf Grund einer Vollmacht tun, die ihm von ei-
ner Instanz in der Welt erteilt ist. Er tut es auf eigene Verantwortung vor einer Instanz,
die er sich selber setzt, indem er sie vorfindet im Philosophieren der Jahrtausende.
Wenn er von Möglichkeiten in den Kirchen spricht, so muß er | wissen, daß ihm 478
keinerlei Vollmacht eingeräumt wird. Aber es liegt in der Natur der Sache, daß er in der
Teilnahme an den ernsten Dingen, die in den Kirchen und durch sie geschehen oder
nicht geschehen, seine Gedanken dorthin richtet. Denn dort kann zur Geltung ge-
bracht werden, was das künftige Menschsein bestimmt.
Vielleicht kann er einen Raum des Möglichen erblicken und gar für einen Augen-
blick weiter sehen als das gewohnte Mitmachen mit dem Bestehenden es zuläßt. Viel-
leicht vermag sein Denken sogar zu helfen, wo ursprüngliche Ergriffenheit Einzelner
Klarheit in der Kirche sucht. Vielleicht kann er, wo ein Leben aus sich selber noch
dunklem Pneuma in das Licht drängt, ermutigen. Vielleicht gibt er begriffliche Mittel