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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0573
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

an die Hand, die in dieser denkenden Praxis unumgänglich sind. Vielleicht kann er im
Gegenwärtigen eine Vorahnung von möglichem Kommenden bestätigen, wo dieses
im Keime schon sich regt.
Ich bin überzeugt, daß die Substanz des biblischen Glaubens in der für sie gegen-
wärtig bedrohlichen Situation eine so radikale Verwandlung ihrer Erscheinung in
Sprache, Verkündigung, Lebenspraxis finden wird, daß diese Verwandlung für die in
den überlieferten Formen Gebundenen wie die Zerstörung des kirchlichen Glaubens
aussehen kann. Die Kirchen bleiben nur dann überzeugend, wenn sie diese Verwand-
lung aus der Tiefe biblischen Ernstes vollziehen und wenn dieser in ihnen, die Gehäuse
ihrer Dogmen und Institutionen einschmelzend, gegenwärtige Sprache gewinnt.
Wenn ich die Brüchigkeit der modernen protestantischen Theologie zu sehen
meine, so erscheint mir diese selber eine Chance. Die Brüchigkeit zusammen mit der
grundsätzlichen Glaubensfreiheit des Protestantismus könnte grade hier, in dieser
Welt des kirchlich und in der Glaubenspraxis heute schwächsten Christentums, zur
neuen Gestalt gelangen.
Alles, was ich sage, ist nur ein Denken ohne Handeln. In der Kirche selber müßte
es getan und damit zugleich besser gedacht werden als ich es vermag. Nur praktisch,
durch die Verwirklichung in Gemeinschaft, kann in Seelsorge, Predigt, Kultus gesche-
hen, woraufhin das Philosophieren zu denken versucht.
Wie wunderlich ist das Mißverhältnis, wenn ein Einzelner über so große Dinge
schreibt! Wie winzig ist des Einzelnen Denken vor dem überwältigenden Strom der
menschlichen Geschichte und ihrer geistigen Mächte! Er mag mit seinem Denken in
47P die Weite fahren | und in die Tiefe grübeln, seine Erfahrung selber macht bescheiden.
Vielleicht hat er die Hoffnung, hier und dort einen Lichtschein zu größerer Helle zu
bringen oder alte vergessene Wahrheit in dieser Zeit zu wiederholen.
Es ist immer mißlich gewesen, wenn Philosophen den Theologen dreinreden und
ihnen sagen wollten, was sie zu tun haben, als ob Philosophie, der philosophische
Glaube, die oberste Instanz allen Glaubens wäre. Ich möchte nur Fragen stellen, Mög-
lichkeiten zeigen, Entwürfe versuchen, erinnern.
Offenbarungsgläubige und Philosophierende können in einzelnen Menschen sich
nah sein. Sie können in Lebenspraxis und Urteil faktisch Zusammentreffen. Erst der
Ton der Glaubensaussagen, die andere Rangordnung der Dinge, die Ausschließlich-
keit, der verborgene Abbruch der Kommunikation können entfremden. Der Gläubige
auf beiden Seiten hört die Chiffern, aber in dem Ernst, der als solcher das eigentlich
Menschliche ist, in Wahrheit verbindet. Der Glaubende, ob philosophisch oder auf
Offenbarung sich gründend, möchte nicht streiten, aber sich mitteilen.
 
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