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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0014
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Einleitung der Herausgeberin

XIII

demische Nischenexistenz kontrastierte zunehmend die prominente Position, welche
die Psychologie im Laufe der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als Wissen-
schaft eingenommen hatte.45 Im Unterschied zur alten Lehrbuchpsychologie der Phi-
losophen war die neue Psychologie experimentell und interdisziplinär angelegt. Betrie-
ben wurde sie in psychologischen Laboren, die vor der Jahrhundertwende nach dem
von Wilhelm Wundt (Leipzig) eingeführten Muster - vornehmlich von Medizinern -
errichtet wurden: von William James in Harvard, Wladimir Bechterew in St. Petersburg
oder Emil Kraepelin in Heidelberg.
Um 1900 war die Psychologie nicht nur gänzlich von der Philosophie losgelöst,46 sie
war nun in der Lage, ihr Verhältnis zu den anderen Wissenschaften zu verhandeln, vor al-
lem zur Psychiatrie. Die Entwicklung des Intelligenztests durch Alfred Binet und Theodore
Simon und die damit verbundene Umgestaltung des französischen Sonderklassensystems
zeugt wohl am deutlichsten von der Durchsetzungskraft der Psychologie gegenüber der
Psychiatrie, die bisher das Monopol bei Entwicklungsstörungen beansprucht hatte.47
Das Verhältnis zwischen Psychologie und Psychiatrie war indes nicht nur opposi-
tionell. Wie der deutsche Psychologe Hugo Münsterberg von den USA aus erklärte, er-
öffnete die Pathologie des Seelenlebens der Psychologie ein fruchtbares Forschungs-
feld ,48 Die Psychologie könnte, so Münsterberg, in der Bearbeitung ihrer Aufgaben
erstens dadurch gefördert werden, dass sie »neben den normalen psychischen Vorgän-
gen auch die pathologischen studiert«, zweitens dadurch, dass »sie die Pathologie he-
ranzieht, um das normale Seelenleben zu verstehen.«49 Umgekehrt war nach Meinung
des Münchner Psychiaters Wilhelm Specht ein wirkliches Verständnis der psychischen
Krankheiten nur durch die Einsicht in die psychischen Mechanismen der Störung
möglich.50 Infolgedessen gründete Specht im Jahre 1911 in Zusammenarbeit mit Müns-

45 Vgl. hierzu ebd. u. ders.: »Die Lage der Psychologie um 1900«, in: Psychologische Rundschau 55
(2004) 2-11.
46 Dadurch fühlte sich die Philosophie nicht bloß inhaltlich, sondern auch akademisch bedroht.
Der Konkurrenzdruck gipfelte im sogenannten Psychologismusstreit, der 107 Philosophen dazu
bewog, sich öffentlich gegen die Besetzung philosophischer Lehrstühle mit Vertretern der expe-
rimentellen Psychologie auszusprechen. Vgl. hierzu M. Rath: Der Psychologismusstreit in der deut-
schen Philosophie, Freiburg i.Br., München 1994. - Diese Konstellation öffnete Jaspers die Tür zur
Philosophischen Fakultät. Vgl. hierzu H. Gundlach: Wilhelm Windelband, 337-343.
47 Vgl. hierzu S. Nicolas u.a.: »Sick? or slow? On the origins of Intelligence as a psychological ob-
ject«, in: Intelligence 41 (2013) 699-711.
48 Nach Engstrom hatte gerade die Stärkung somatischer Deutungsmuster die Öffnung der Psychi-
atrie zur Psychologie ermöglicht. Vgl. E. J. Engstrom: »Psychiatrie zwischen Psychologie und Phi-
losophie - Moritz Lazarus, Wilhelm Wundt, Theodor Ziehen«, in: H. Heimchen (Hg.): Psychiater
und Zeitgeist. Zur Geschichte der Psychiatrie in Berlin, Lengerich u.a. 2008, 43-58.
49 Vgl. H. Münsterberg: »Psychologie und Pathologie«, in: Zeitschrift für Pathopsychologie 1 (1912) 50-
66, hier: 52.
50 Vgl. Spechts programmatische Schrift Ȇber den Wert der pathologischen Methode in der Psy-
chologie und die Notwendigkeit der Fundierung der Psychiatrie auf einer Pathopsychologie«,
ebd., 4-49.
 
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