Einleitung der Herausgeberin
XVII
Im Zuge dieser Überlegungen bildeten die forensisch-psychiatrischen Fälle, die
Jaspers für seine Dissertation wissenschaftlich verwertete, geradezu das extreme Ge-
genstück zu den Blutdruckmessungen. Hier ging es nämlich in erster Linie nicht so
sehr um die Diagnose als vielmehr um die Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit. Die
Frage nach dem Krankheitsbegriff, der in der Klinik eine zentrale Rolle spielte, trat in
den forensisch-psychiatrischen Gutachten zugunsten einer »stärkeren persönlich-
keitsdiagnostischen Orientierung« zunächst einmal zurück.68 Demnach eigneten sich
gerade die Fälle, mit denen Gerichte sich zu befassen hatten, »ganz besonders« zur ein-
gehenden Darstellung des Einzelfalls, die Jaspers von Anfang an für unentbehrlich ge-
halten hatte. Schon allein wegen der Vielfältigkeit der Dokumentation waren die Ak-
ten der forensisch-psychiatrischen Patienten ein geeigneteres Muster für die Führung
von Krankenakten - wie seine Gegenüberstellung von Anstalts- und Universitätspsy-
chiatrie indirekt suggeriert -, vor allem aber eine ideale Quellenbasis für das Verfassen
von Fallgeschichten.69
Psychiatrische Fallgeschichten spielten - als >Krankheitsskizzen<, >Krankengeschich-
ten< oder >Beobachtungen< - in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine
zentrale Rolle in der Konsolidierung des Faches Psychiatrie.70 Um 1900 waren sie als
Darstellungs- und Erkenntnismittel in der Fachliteratur zwar etabliert, aber durchaus
nicht kanonisiert.71 Ihre Ausführlichkeit und die narrative Setzung hingen wesentlich
von der Publikationsart ab: Während die Monographien zu einzelnen Krankheitsbil-
dern und die Fachzeitschriften Raum für eingehendere Darstellungen zuließen, war die
Kasuistik in den Lehrbüchern oft auf knappe Vignetten reduziert.72 Für die Dissertation
68 A. Schäfer: »Das psychiatrische Gutachten um 1900«, in: Y. Wübben, C. Zelle (Hg.): Krankheit
schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur, Göttingen 2013,283-302, hier: 290.
69 Jaspers schreibt in seiner Eifersuchtsarbeit: »Der einzelne Psychiater sieht meist seine Fälle nur
kurze Zeit; sie bleiben nicht in seiner Obhut, oder sein Leben reicht nicht aus zur Vollendung ei-
gener Beobachtung. Hier helfen uns die in den Archiven der Klinik niedergelegten alten Kranken-
geschichten und ganz besonders - leider fast nur in Fällen, die mit Gerichten zu tun bekamen -
die Akten (Strafakten, Prozeßakten, Ehescheidungsakten, Entmündigungsakten, Personalakten
usw.)« (K. Jaspers: »Eifersuchtswahn«, in diesem Band, S. 108). Zum Ineinandergreifen juristischer
und psychiatrischer Aktenführung siehe V. Hess: »Die Buchhaltung des Wahnsinns. Archiv und
Aktenführung zwischen Justiz und Irrenreform«, in: C. Borck, A. Schäfer (Hg.): Das psychiatrische
Aufschreibesystem, Paderborn 2015,55-76. Direkte, wenn auch nur allgemeine Anweisungen zum
Verfassen einer Krankenakte lieferte Jaspers einige Jahre später in der Allgemeinen Psychopatholo-
gie (vgl. Allgemeine Psychopathologie [1913], 319).
70 Siehe hierzu beispielsweise B.-M. Schuster: Auf dem Weg zur Fachsprache. Sprachliche Professionali-
sierung in der psychiatrischen Schreibpraxis (1800-1939), Berlin 2010.
71 Siehe hierzu M. Ralser: Das Subjekt der Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie: Kulturen der
Krankheit um 1900, Paderborn, München 2010.
72 Vgl. resp. C. Zelle: »Zur Sachprosa des >Falls<. Psychiatrische Fallerzählungen um 1850/70 in der
Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten«, in: L.
Aschauer u.a. (Hg): Fallgeschichten. Fext- und Wissensformen exemplarischer Narrative in der Kultur
der Moderne, Würzburg 2015,47-71; Y. Wübben: »Mikrotom der Klinik. Der Aufstieg des Lehrbuchs
XVII
Im Zuge dieser Überlegungen bildeten die forensisch-psychiatrischen Fälle, die
Jaspers für seine Dissertation wissenschaftlich verwertete, geradezu das extreme Ge-
genstück zu den Blutdruckmessungen. Hier ging es nämlich in erster Linie nicht so
sehr um die Diagnose als vielmehr um die Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit. Die
Frage nach dem Krankheitsbegriff, der in der Klinik eine zentrale Rolle spielte, trat in
den forensisch-psychiatrischen Gutachten zugunsten einer »stärkeren persönlich-
keitsdiagnostischen Orientierung« zunächst einmal zurück.68 Demnach eigneten sich
gerade die Fälle, mit denen Gerichte sich zu befassen hatten, »ganz besonders« zur ein-
gehenden Darstellung des Einzelfalls, die Jaspers von Anfang an für unentbehrlich ge-
halten hatte. Schon allein wegen der Vielfältigkeit der Dokumentation waren die Ak-
ten der forensisch-psychiatrischen Patienten ein geeigneteres Muster für die Führung
von Krankenakten - wie seine Gegenüberstellung von Anstalts- und Universitätspsy-
chiatrie indirekt suggeriert -, vor allem aber eine ideale Quellenbasis für das Verfassen
von Fallgeschichten.69
Psychiatrische Fallgeschichten spielten - als >Krankheitsskizzen<, >Krankengeschich-
ten< oder >Beobachtungen< - in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine
zentrale Rolle in der Konsolidierung des Faches Psychiatrie.70 Um 1900 waren sie als
Darstellungs- und Erkenntnismittel in der Fachliteratur zwar etabliert, aber durchaus
nicht kanonisiert.71 Ihre Ausführlichkeit und die narrative Setzung hingen wesentlich
von der Publikationsart ab: Während die Monographien zu einzelnen Krankheitsbil-
dern und die Fachzeitschriften Raum für eingehendere Darstellungen zuließen, war die
Kasuistik in den Lehrbüchern oft auf knappe Vignetten reduziert.72 Für die Dissertation
68 A. Schäfer: »Das psychiatrische Gutachten um 1900«, in: Y. Wübben, C. Zelle (Hg.): Krankheit
schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur, Göttingen 2013,283-302, hier: 290.
69 Jaspers schreibt in seiner Eifersuchtsarbeit: »Der einzelne Psychiater sieht meist seine Fälle nur
kurze Zeit; sie bleiben nicht in seiner Obhut, oder sein Leben reicht nicht aus zur Vollendung ei-
gener Beobachtung. Hier helfen uns die in den Archiven der Klinik niedergelegten alten Kranken-
geschichten und ganz besonders - leider fast nur in Fällen, die mit Gerichten zu tun bekamen -
die Akten (Strafakten, Prozeßakten, Ehescheidungsakten, Entmündigungsakten, Personalakten
usw.)« (K. Jaspers: »Eifersuchtswahn«, in diesem Band, S. 108). Zum Ineinandergreifen juristischer
und psychiatrischer Aktenführung siehe V. Hess: »Die Buchhaltung des Wahnsinns. Archiv und
Aktenführung zwischen Justiz und Irrenreform«, in: C. Borck, A. Schäfer (Hg.): Das psychiatrische
Aufschreibesystem, Paderborn 2015,55-76. Direkte, wenn auch nur allgemeine Anweisungen zum
Verfassen einer Krankenakte lieferte Jaspers einige Jahre später in der Allgemeinen Psychopatholo-
gie (vgl. Allgemeine Psychopathologie [1913], 319).
70 Siehe hierzu beispielsweise B.-M. Schuster: Auf dem Weg zur Fachsprache. Sprachliche Professionali-
sierung in der psychiatrischen Schreibpraxis (1800-1939), Berlin 2010.
71 Siehe hierzu M. Ralser: Das Subjekt der Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie: Kulturen der
Krankheit um 1900, Paderborn, München 2010.
72 Vgl. resp. C. Zelle: »Zur Sachprosa des >Falls<. Psychiatrische Fallerzählungen um 1850/70 in der
Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten«, in: L.
Aschauer u.a. (Hg): Fallgeschichten. Fext- und Wissensformen exemplarischer Narrative in der Kultur
der Moderne, Würzburg 2015,47-71; Y. Wübben: »Mikrotom der Klinik. Der Aufstieg des Lehrbuchs