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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0019
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XVIII

Einleitung der Herausgeberin

über das Heimweh als Ursache von Verbrechen - Brandstiftung oder Kindstötung von-
seiten junger Landdienstmädchen - standen Jaspers nur wenige (insgesamt zwanzig)
Fallgeschichten zur Verfügung. Aus den Lehrbüchern als eigenständige Krankheit
längst verschwunden, wurde das Heimweh auch forensisch-psychiatrisch, also als Mo-
tiv und als Strafmilderungsgrund, kaum noch diskutiert. Während von den 1780er Jah-
ren bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts solche >Heimwehverbrechen< in größerer Zahl
beobachtet worden waren, kamen sie jetzt nur noch selten vor.* * 73 Gerade die Entpatho-
logisierung des Heimwehs forderte neue Erklärungsmuster für die wenigen Fälle, bei de-
nen es schwere Verbrechen auslöste oder zumindest ein diesbezüglicher Verdacht be-
stand. Um das Phänomen einzuordnen, suchte Jaspers nicht nur Berührungspunkte
mit älteren forensischen Präzedenzfällen, sondern auch mit Schilderungen von »nor-
malem Heimweh« aus der Literatur und persönlichen Zeugnissen.74 Da, wie Jaspers fest-
stellte, die Grenzen zwischen normalem und pathologischem Heimweh fließend wa-
ren, könne die Verschränkung von Heimweh und Verbrechen nur jeweils am Einzelfall
erörtert werden, weshalb er auch die eigenen Fälle akribisch wiedergab. Dabei ging es
Jaspers offensichtlich nicht so sehrum die bloße Ansammlung aussagekräftiger Details,
sondern um die Darstellung der Biographie, einschließlich des (engen) sozio-kulturel-
len Milieus der jungen Verbrecherinnen. Damit kündigt sich bereits in seiner Heim-
weh-Arbeit an, wofür er erst im Aufsatz über den Eifersuchtswahn ausdrücklich plä-
dierte, nämlich die »Gewinnung ganzer Lebensläufe«75. In der dritten Auflage der
Allgemeinen Psychopathologie formulierte er dann noch deutlicher: »Ein Archiv von wirk-
lich durchgearbeiteten, biographischen Krankengeschichten ist das dringendste Erfor-
dernis der Psychiatrie.«76
3. Erklären und Verstehen
Die Gewinnung guter Biographien erwies sich für die Erörterung der sogenannten >Pa-
ranoiafrage<, die Jaspers in seiner Eifersuchtsarbeit in Angriff nahm, als besonders re-
levant. Anders als das Heimweh stand die >Paranoia< gerade im Brennpunkt der psych-
iatrischen Nosologie, um deren radikale Reorganisation sich Kraepelin verdient

in der Psychiatrie (um 1890)«, in: dies., C. Zelle (Hg.): Krankheit schreiben. Aufzeichnungsverfahren
in Medizin und Literatur, Göttingen 2013,149-175.
73 Vgl. hierzu S. Bunke: Heimweh. Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit,
Freiburg i.Br. 2009,136-156.
74 Jaspers zitierte in seiner Dissertation u.a. aus Briefen seiner Schwester Erna. Vgl. Jaspers: »Heim-
weh und Verbrechen«, in diesem Band, S. 45, und Stellenkommentar, Nr. 220.
75 Jaspers: »Eifersuchtswahn«, in diesem Band, S. 108.
76 Jaspers: Allgemeine Psychopathologie [1923], 367. Ausführlicher hierzu: A. Schäfer: »Die Archivfunk-
tion in der Psychiatrie (Kraepelin, Jaspers)«, in: T. Weitin, B. Wolf (Hg.): Gewalt der Archive. Stu-
dien zur Kulturgeschichte der Wissensspeicherung, Konstanz 2012,235-254.
 
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