Einleitung der Herausgeberin
XIX
machte.77 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden unter dem Oberbegriff >Paranoia<
sämtliche Psychosen subsumiert, für deren Diagnose einzig und allein das Merkmal
der Wahnvorstellungen maßgebend war.78 Von diesem inflationären, unscharf gefass-
ten Sammelbegriff hatte Kraepelin die Paranoia im engeren Sinn abgegrenzt und da-
bei den Akzent von der Symptomatologie auf die Entwicklung - Beginn, Verlauf und
Endzustand - der Krankheit verschoben.79 Die Biographie des Patienten diente Krae-
pelin dazu, anhand von Verlaufs- und Fortschrittsmerkmalen die Geschichte und so-
mit das Wesen der Krankheit aufzudecken.80
Jaspers verfolgte damit einen anderen Zweck. Wie schon bei der Dissertation ori-
entierte er sich auch bei der zweiten Arbeit an seinem Mentor Wilmanns. Dieser hatte
im Kontext der Paranoia-Frage zwischen »psychologisch wohl verständliche [n]« und
»pathologischen Entwicklungen« unterschieden.81 Jaspers spitzte Wilmanns’ eher in-
tuitive Unterscheidung zu, indem er sie mit der begrifflich klareren Differenzierung
zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Prozess koppelte. Dafür lehnte er sich an
den »teleologischen Entwicklungsbegriff« des Philosophen Heinrich Rickert an, der
die verschiedenen Veränderungen zu einem einheitlichen Ganzen zusammen-
schloss.82 Wilmanns und Rickert zusammenführend, ergab sich für Jaspers folgendes
Bild: Entweder lässt sich, unter Voraussetzung der Kenntnis der Lebensgeschichte, die
Krankheit sozusagen im Rahmen der von ihr befallenen Persönlichkeit einfügen und
ist somit als Reaktion oder eben als Entwicklung zu verstehen, oder sie bedeutet eine
heterogene Umwandlung der Persönlichkeit durch eine radikal fremde, über sie her-
einbrechende Neuigkeit und ist somit als Prozess einzuordnen. Ferner sind auch die
Herangehensweisen an das Seelenleben der Kranken zwei verschiedene: Im ersteren
Fall kann man sich in die entsprechende Persönlichkeit hineinversetzen und die psy-
chischen Zusammenhänge nacherleben und verstehen, den Prozess hingegen nur be-
greifen.
Durch diese Unterscheidung sprengte Jaspers den nosologischen Diskussionsrah-
men der Paranoia-Frage und verschränkte sie mit einer Debatte, die außerhalb der Psy-
chiatrie - oder vielmehr: nicht von den Psychiatern selbst - ausgetragen wurde: mit
77 Vgl. Stellenkommentar, Nr. 299.
78 Laut Kraepelin machte diese »Universalkrankheit« in manchen Anstalten 70-80% der Kranken
aus. Vgl. E. Kraepelin: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Bd. 2, Leipzig 7i9O4, 592.
79 Siehe hierzu P. Hoff: Emil Kraepelin und die Psychiatrie als klinische Wissenschaft. Ein Beitrag zum
Selbstverständnis psychiatrischer Forschung, Berlin u.a. 1994,126-132.
80 Vgl. hierzu S. Kiceluk: »Der Patient als Zeichen und als Erzählung: Krankheitsbilder, Lebensge-
schichten und die erste psychoanalytische Fallgeschichte«, in: Psyche 47 (1993) 815-854.
81 Vgl. K. Wilmanns: »Zur klinischen Stellung der Paranoia«, in: Centralblatt für Nervenheilkunde und
Psychiatrie (1910) 204-211.
82 Vgl. H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die
historischen Wissenschaften, Tübingen, Leipzig 1902, 472-473. Rickert unterschied insgesamt sie-
ben Bedeutungen von Entwicklung.
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machte.77 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden unter dem Oberbegriff >Paranoia<
sämtliche Psychosen subsumiert, für deren Diagnose einzig und allein das Merkmal
der Wahnvorstellungen maßgebend war.78 Von diesem inflationären, unscharf gefass-
ten Sammelbegriff hatte Kraepelin die Paranoia im engeren Sinn abgegrenzt und da-
bei den Akzent von der Symptomatologie auf die Entwicklung - Beginn, Verlauf und
Endzustand - der Krankheit verschoben.79 Die Biographie des Patienten diente Krae-
pelin dazu, anhand von Verlaufs- und Fortschrittsmerkmalen die Geschichte und so-
mit das Wesen der Krankheit aufzudecken.80
Jaspers verfolgte damit einen anderen Zweck. Wie schon bei der Dissertation ori-
entierte er sich auch bei der zweiten Arbeit an seinem Mentor Wilmanns. Dieser hatte
im Kontext der Paranoia-Frage zwischen »psychologisch wohl verständliche [n]« und
»pathologischen Entwicklungen« unterschieden.81 Jaspers spitzte Wilmanns’ eher in-
tuitive Unterscheidung zu, indem er sie mit der begrifflich klareren Differenzierung
zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Prozess koppelte. Dafür lehnte er sich an
den »teleologischen Entwicklungsbegriff« des Philosophen Heinrich Rickert an, der
die verschiedenen Veränderungen zu einem einheitlichen Ganzen zusammen-
schloss.82 Wilmanns und Rickert zusammenführend, ergab sich für Jaspers folgendes
Bild: Entweder lässt sich, unter Voraussetzung der Kenntnis der Lebensgeschichte, die
Krankheit sozusagen im Rahmen der von ihr befallenen Persönlichkeit einfügen und
ist somit als Reaktion oder eben als Entwicklung zu verstehen, oder sie bedeutet eine
heterogene Umwandlung der Persönlichkeit durch eine radikal fremde, über sie her-
einbrechende Neuigkeit und ist somit als Prozess einzuordnen. Ferner sind auch die
Herangehensweisen an das Seelenleben der Kranken zwei verschiedene: Im ersteren
Fall kann man sich in die entsprechende Persönlichkeit hineinversetzen und die psy-
chischen Zusammenhänge nacherleben und verstehen, den Prozess hingegen nur be-
greifen.
Durch diese Unterscheidung sprengte Jaspers den nosologischen Diskussionsrah-
men der Paranoia-Frage und verschränkte sie mit einer Debatte, die außerhalb der Psy-
chiatrie - oder vielmehr: nicht von den Psychiatern selbst - ausgetragen wurde: mit
77 Vgl. Stellenkommentar, Nr. 299.
78 Laut Kraepelin machte diese »Universalkrankheit« in manchen Anstalten 70-80% der Kranken
aus. Vgl. E. Kraepelin: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Bd. 2, Leipzig 7i9O4, 592.
79 Siehe hierzu P. Hoff: Emil Kraepelin und die Psychiatrie als klinische Wissenschaft. Ein Beitrag zum
Selbstverständnis psychiatrischer Forschung, Berlin u.a. 1994,126-132.
80 Vgl. hierzu S. Kiceluk: »Der Patient als Zeichen und als Erzählung: Krankheitsbilder, Lebensge-
schichten und die erste psychoanalytische Fallgeschichte«, in: Psyche 47 (1993) 815-854.
81 Vgl. K. Wilmanns: »Zur klinischen Stellung der Paranoia«, in: Centralblatt für Nervenheilkunde und
Psychiatrie (1910) 204-211.
82 Vgl. H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die
historischen Wissenschaften, Tübingen, Leipzig 1902, 472-473. Rickert unterschied insgesamt sie-
ben Bedeutungen von Entwicklung.