Einleitung der Herausgeberin
XXIII
unter mehreren." Husserls antipsychologistischer und gleichzeitig methodologisch
rigoroser Ansatz mag für Jaspers eine Art Befreiungsschlag gewesen sein,99 100 der gemein-
same Begriff >Phänomenologie< darf jedoch nicht über die unterschiedlichen Ziele und
W irkungsbereiche hinwegtäuschen.101
5. Max Weber und die Debatte um Erklären und Verstehen
Ganz anders verhält es sich mit Weber. Schon laut Jaspers’ eigener Einschätzung war
Webers Einfluss auf ihn nachhaltiger und tiefgreifender als die Begeisterung für Hus-
serl: »Ich verdanke Max Weber nicht nur meine Psychopathologie in der Jugend, son-
dern die Möglichkeit meiner Philosophie«, schrieb er rückblickend im Jahre 1949.102
Jaspers hatte Weber durch Vermittlung Gruhles im Jahre 1909 kennengelernt und ge-
hörte bald zu dessen engerem Kreis.103 Zu dieser Zeit hatte Weber, aufbauend auf Ge-
org Simmels Verstehensbegriff, bereits die Weichen für seine verstehende Soziologie
gestellt.104 Ferner hatte er sich selbst mit experimental-psychologischen Themen be-
fasst und war somit der ideale Diskussionspartner für einen jungen Psychiater auf der
99 Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass die Methode, die Jaspers in seinem Aufsatz über leib-
haftige Bewusstheiten als eine phänomenologische präsentiert, im Grunde gar keine phänome-
nologische ist, neigt sie doch dazu, Kategorien zu bilden und diese miteinander zu vergleichen.
Vgl. hierzu A. Donise: »Karl Jaspers als Phänomenologe«, in: Studia Philosophica 67 (2008) 335-348.
100 Zumindest äußerte sich Jaspers später in diesem Sinne: »Nach langer Fesselung an die Medizin
lernte ich 1909 durch Lektüre Husserl kennen. Seine Phänomenologie war als Methode ergiebig,
weil ich sie für die Beschreibung der Erlebnisse von Geisteskranken anwenden konnte. Wesentli-
cher aber war es mir zu sehen, wie ungemein diszipliniert er dachte, dann daß er den Psycholo-
gismus, durch den sich alle Probleme auflösen in solche psychologischer Motivation, überwun-
den hatte, vor allem seine unablässige Forderung, unbemerkte Voraussetzungen zu klären. Was
in mir schon wirkte, fand ich bestätigt: den Drang zu den Sachen selbst. Das war damals in einer
Welt voller Vorurteile, Schematismen, Konventionen wie eine Befreiung« (»Mein Weg zur Philo-
sophie«, 386). Husserls deskriptiv-psychologische Untersuchungen waren zwar nicht der einzige,
jedoch der systematischste und ausführlichste Versuch, dem Psychologismus entgegenzusteu-
ern.
101 Was Jaspers’ Phänomenologie mit der Husserlschen, abgesehen vom Namen, gemeinsam hat, ist
eines der umstrittensten Themen der Jaspers-Forschung. Für einen Überblick über diese Diskus-
sion siehe T. Kumazaki: »The theoretical root of Karl Jaspers’ General Psychopathology. Part 1: Re-
considering the influence of phenomenology and hermeneutics«, in: History of Psychiatry 24
(2013) 212-226.
102 K. Jaspers an W. Hellpach, 22. April 1949, in: Jaspers: Korrespondenzen 1,190. Zum Einfluss von We-
ber auf Jaspers vgl. D. Henrich: »Denken im Blick auf Max Weber«, inj. Hersch u.a. (Hg.): Karl
Jaspers. Philosoph, Arzt, politischer Denker, München u.a. 1986, 207-231; M. Bormuth: Lebensfüh-
rung in der Moderne. Karl Jaspers und die Psychoanalyse, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002.
103 Vgl. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 34.
104 Vgl. hierzu K. Lichtblau: »Simmel, Weber und die »verstehende Soziologie»«, in: Berliner Journal für
Soziologie 3 (1993) 141-151. - Durch Weber rezipierte auch Jaspers den Simmel’schen Verstehens-
begriff. Vgl. Stellenkommentar, Nr. 820.
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unter mehreren." Husserls antipsychologistischer und gleichzeitig methodologisch
rigoroser Ansatz mag für Jaspers eine Art Befreiungsschlag gewesen sein,99 100 der gemein-
same Begriff >Phänomenologie< darf jedoch nicht über die unterschiedlichen Ziele und
W irkungsbereiche hinwegtäuschen.101
5. Max Weber und die Debatte um Erklären und Verstehen
Ganz anders verhält es sich mit Weber. Schon laut Jaspers’ eigener Einschätzung war
Webers Einfluss auf ihn nachhaltiger und tiefgreifender als die Begeisterung für Hus-
serl: »Ich verdanke Max Weber nicht nur meine Psychopathologie in der Jugend, son-
dern die Möglichkeit meiner Philosophie«, schrieb er rückblickend im Jahre 1949.102
Jaspers hatte Weber durch Vermittlung Gruhles im Jahre 1909 kennengelernt und ge-
hörte bald zu dessen engerem Kreis.103 Zu dieser Zeit hatte Weber, aufbauend auf Ge-
org Simmels Verstehensbegriff, bereits die Weichen für seine verstehende Soziologie
gestellt.104 Ferner hatte er sich selbst mit experimental-psychologischen Themen be-
fasst und war somit der ideale Diskussionspartner für einen jungen Psychiater auf der
99 Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass die Methode, die Jaspers in seinem Aufsatz über leib-
haftige Bewusstheiten als eine phänomenologische präsentiert, im Grunde gar keine phänome-
nologische ist, neigt sie doch dazu, Kategorien zu bilden und diese miteinander zu vergleichen.
Vgl. hierzu A. Donise: »Karl Jaspers als Phänomenologe«, in: Studia Philosophica 67 (2008) 335-348.
100 Zumindest äußerte sich Jaspers später in diesem Sinne: »Nach langer Fesselung an die Medizin
lernte ich 1909 durch Lektüre Husserl kennen. Seine Phänomenologie war als Methode ergiebig,
weil ich sie für die Beschreibung der Erlebnisse von Geisteskranken anwenden konnte. Wesentli-
cher aber war es mir zu sehen, wie ungemein diszipliniert er dachte, dann daß er den Psycholo-
gismus, durch den sich alle Probleme auflösen in solche psychologischer Motivation, überwun-
den hatte, vor allem seine unablässige Forderung, unbemerkte Voraussetzungen zu klären. Was
in mir schon wirkte, fand ich bestätigt: den Drang zu den Sachen selbst. Das war damals in einer
Welt voller Vorurteile, Schematismen, Konventionen wie eine Befreiung« (»Mein Weg zur Philo-
sophie«, 386). Husserls deskriptiv-psychologische Untersuchungen waren zwar nicht der einzige,
jedoch der systematischste und ausführlichste Versuch, dem Psychologismus entgegenzusteu-
ern.
101 Was Jaspers’ Phänomenologie mit der Husserlschen, abgesehen vom Namen, gemeinsam hat, ist
eines der umstrittensten Themen der Jaspers-Forschung. Für einen Überblick über diese Diskus-
sion siehe T. Kumazaki: »The theoretical root of Karl Jaspers’ General Psychopathology. Part 1: Re-
considering the influence of phenomenology and hermeneutics«, in: History of Psychiatry 24
(2013) 212-226.
102 K. Jaspers an W. Hellpach, 22. April 1949, in: Jaspers: Korrespondenzen 1,190. Zum Einfluss von We-
ber auf Jaspers vgl. D. Henrich: »Denken im Blick auf Max Weber«, inj. Hersch u.a. (Hg.): Karl
Jaspers. Philosoph, Arzt, politischer Denker, München u.a. 1986, 207-231; M. Bormuth: Lebensfüh-
rung in der Moderne. Karl Jaspers und die Psychoanalyse, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002.
103 Vgl. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 34.
104 Vgl. hierzu K. Lichtblau: »Simmel, Weber und die »verstehende Soziologie»«, in: Berliner Journal für
Soziologie 3 (1993) 141-151. - Durch Weber rezipierte auch Jaspers den Simmel’schen Verstehens-
begriff. Vgl. Stellenkommentar, Nr. 820.