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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0031
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XXX

Einleitung der Herausgeberin

Unterdessen hatte die von Binswanger eingeleitete Kontroverse derartige Dimen-
sionen angenommen, dass sie bei manchem Psychiater die alte Polarisierung von Psy-
chikern und Somatikern heraufbeschwor.139 Die Angriffe kamen nicht nur aus dem
psychoanalytischen Lager. Auch unter den Freud-Gegnern war nicht jeder bereit, das
»Jasperssche Postulat«140 und die a priori begrenzte Verstehbarkeit bedenkenlos hin-
zunehmen. Arthur Kronfeld, welcher der Psychoanalyse alles andere als wohlgeson-
nen war, sparte nicht mit Kritik an den »irrigen methodischen Voraussetzungen« in
der Theorie des Kollegen.141 In seiner 1920 erschienenen Abhandlung über die psych-
iatrische Erkenntnis diskutierte er mehrmals den Jasper s’schen Verstehensbegriff, um
ihn als »dogmatische Ausflucht vor dem Problem des Wissens um fremdes Psychi-
sches« zurückzuweisen.142 In den folgenden Jahrzehnten veranlasste Jaspers’ Verste-
hen-Erklären-Dichotomie - auf psychiatrischer und später auch auf philosophischer
Seite, mit und ohne Bezug auf Jaspers selbst - so viele Widerlegungs- und Justierungs-
versuche, dass in Bezug auf diese Thematik die Wirkungsgeschichte seiner Psychopa-
thologie unüberschaubar geworden ist.143 Dabei schlugen die Gegner häufig sehr vor-
wurfsvolle Töne an. Der italienische Psychiatriereformer Franco Basaglia scheute sich
beispielsweise 1967 nicht davor, in einem Artikel mit dem unmissverständlichen Titel
»Die Endlösung« eine gewisse Kohärenz zwischen Jaspers’ verstehender Psychiatrie
und dem Holocaust herzustellen.144 Jaspers’ »Unverständlichkeitstheorem«145 wird im-
mer noch kontrovers diskutiert.146 Was dabei direkt auf die ursprünglichen Formulie-

139 »Jedenfalls ist das Begriffspaar: kausal-verständlich, so wie es nun in der Literatur sich einzubür-
gern beginnt, wie geschaffen zu einem neuen logischen Hinterhalt, aus dem sich die einseitigen
Somatiker und die Verstiegenen unter den Psychopathologen recht nach Herzenslust gegensei-
tig bekämpfen und beschimpfen können. Schon taucht auch wieder das verhängnisvolle kleine
>Nur< auf, das die Wertungen bringt und die Logik vergiftet: >nur äußerlich kausal erklärt, aber
nicht verstanden< von der einen Seite, und von der Gegenpartei: >nur verständliche, aber keine
kausalen Zusammenhänge« Dem ruhigen Empiriker, der für Parteidogmen nichts übrig hat, wird
ganz unbehaglich bei diesem Aufmarsch« (Kretschmer: »Die psychopathologische Forschung«,
247). Dieses Unbehagen gab fast ein halbes Jahrhundert später Georges Lanteri-Laura noch An-
lass zu tiefgreifenden Überlegungen. Vgl. G. Lanteri-Laura: »La notion de processus dans la pen-
see psychopathologique de K. Jaspers«, in: L’Evolution psychiatrique 27 (1962) 459-499.
140 H. Gruhle: »Selbstschilderung und Einfühlung. Zugleich ein Versuch des Falles Banting«, in: Zeit-
schrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 28 (1915) 148-231, hier: 159.
141 A. Kronfeld an K. Jaspers, 21. Februar 1914, in: Jaspers: Korrespondenzen I,296.
142 Vgl. A. Kronfeld: Das Wesen der psychiatrischen Erkenntnis. Beiträge zur allgemeinen Psychiatrie, Ber-
lin 1920, 384.
143 Vgl. exemplarisch W. Blankenburg: »Unausgeschöpftes in der Psychopathologie von Karl Jaspers«,
in: Hersch u.a. (Hg.): Karl Jaspers, 127-160. Zu einem Überblick vgl. W. Schmitt: »Karl Jaspers als
Psychiater und sein Einfluß auf die Psychiatrie«, in: J.-F. Leonhard (Hg.): Karl Jaspers, 23-41, bes.
30-38.
144 Vgl. F. Basaglia: »La soluzione finale« [1967], in: ders.: Scritti. 1953-1980, Mailand 2017, 443-450.
145 Vgl. W. von Baeyer: Wähnen und Wahn, Stuttgart 1979.
146 Vgl. exemplarisch als jeweils eine philosophische bzw. psychiatrische Stellungnahme C. Kupke:
»Was ist so unverständlich am Wahn? Philosophisch-kritische Darstellung des Jaspers’schen Un-
 
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