Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0062
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Heimweh und Verbrechen

19

allen Teilen, Magen und Zwerchfell verfallen in eine gewisse Trägheit, Symptome von
Magen-Darmentzündung, das Fieber wird heftiger. 3. Stadium: Schwäche, allgemeines
Sinken der Kräfte, Traurigkeit, Seufzen, Tränenvergießen, Abscheu vor Nahrungsmit-
teln und klarem Wasser, Selbstmord oder allmähliches Erlöschen der Lebenskraft. Auf
diese Weise hat Larrey auf dem Rückzüge von Moskau eine große Menge seiner Gefähr-
ten hinscheiden sehen. Als Sektionsbefund gibt er an: Oberfläche des Gehirns, Pia74 und
Arachnoidea75 entzündet, mit Eiter belegt, Hirnsubstanz angeschwollen und härter als
normal. Arterien angefüllt mit schwarzem flüssigem Blut. Als sekundär betrachtet er
die Überfüllung der Lungen, Erweiterung des Herzens, Ausdehnung des Magendarm-
kanals durch Gas und Rötung der Schleimhaut. In derselben Arbeit beschreibt Larrey
einige Kopfverletzungen und findet zwischen deren Folgen und der Heimwehkrankheit
eine weitgehende Ähnlichkeit.
Seine Übersetzung der Larreyschen Arbeit in Friedreichs Magazin begleitet
Amelung mit einigen kritischen Bemerkungen (1830).76 Das Heimweh Larreys könne
ganz aufgehen in die zwei Krankheiten des Nervenfiebers und der Melancholie. Es sei
deren Ursache wie andere kummervolle Affekte, z.B. Liebesweh, sei aber keine eigene
Krankheit. Außerdem kann das Heimweh als Symptom einer jeden Krankheit auftre-
ten. »Ein jeder der schon einmal in der Fremde bedeutender erkrankte, wird mit mir
übereinstimmen, daß man nie größere Sehnsucht nach der Heimat fühlt, als wenn
man sich unwohl befindet, und daß diese Sehnsucht in dem Grade steigt, je härter man
erkrankt, während sie in gesunden Tagen vielleicht ganz unbekannt war«.77 Also sei
das Heimweh nicht als Morbus genuinus78 anzusehen, sondern jederzeit entweder als
Ursache oder Symptom eines Nervenleidens.
Derselben Auffassung wie Amelung ist Georget (1831).79 Das Heimweh ist keine
Krankheit, sondern bloß eine Ursache von verschiedenen Affektionen, | deren Behänd- 9
lung sogar von dem Umstande, der zu ihrer Entstehung Veranlassung gegeben hat,
unabhängig sein kann.
In merkwürdigem Gegensatz zu diesen kritischen Bemerkungen steht die etwa
gleichzeitige Ansicht Friedreichs (Handbuch der gerichtl. Psychologie, Leipzig 1835).80
Bei der Erklärung des Brandstiftungstriebes aus einer Feuer- und Lichtgier findet er, daß
auch die Nostalgie daraus abzuleiten ist. Der Bewohner des Gebirges, der ja vorzugs-
weise vom Heimweh ergriffen wird, sei ein ideellerer, geisteskräftigerer Mensch, wozu
er durch den vorwaltenden Einfluß des Lichtes und des Sauerstoffes im Gebirge werde.
In das Tal versetzt, sei er auf einmal seinen ideellen Potenzen der vorwaltenden Licht-
sphäre entrissen und so sei das Heimweh nichts anderes als die Sehnsucht nach dem
der Seele verwandten Lichte. Daher auch die vielen Brandstiftungen aus Nostalgie.
Es folgen in der nächsten Zeit drei große zusammenfassende Arbeiten von Schlegel
(1835),81 Zangerl (i. Aufl. 1820,2.1840)82 und Jessen (1841).83 Viele Angaben früherer
Autoren werden, nicht immer mit genügender Kritik, zusammengestellt, manches
Neue hinzugefügt. Als wesentlichen Fortschritt dieser Arbeiten darf man wohl betrach-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften