Heimweh und Verbrechen
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die ihn gegen Außendinge gleichgültiger machen. So wird der Erwachsene, in Geschäf-
ten und Zerstreuungen aller Art verloren, gewissermaßen blinder gegen die Außenwelt.
Er übersieht vieles, was das Kind einzeln durchdringt und beobachtet, was ihn umfängt,
macht weniger tiefen Eindruck. Aber die ersten Eindrücke aus der früheren Zeit sind
noch unerloschen und verlöschen nicht, wenn sie auch verdunkeln. Sie können nicht
ganz verschwinden, denn sie hatten auf die bleibende Gemütsstimmung und die nach-
herige Geistesrichtung den folgenreichsten Einfluß und der erwachsene Mensch ist nur
zu dem aufgewachsen, wozu er im zarten Beginn des Lebens und der ersten Selbsttätig-
keit wird. Daher bleibt ihm auch in späteren Jahren, oft ohne es zu wissen, Vorliebe zu
dem, was ihm am frühesten tief zugesagt hatte. Daher kann er in späteren Jahren in der
Fremde reizendere, schönere Naturen finden, aber sie ergreifen ihn weniger als die
Natur der Heimat, mit welcher sein ganzes Wesen einig ist. So erklären wir uns, warum
noch Greise eine heftige Sehnsucht nach den Plätzen ihrer Kinderspiele und Männer
beim Anblick der Gegend, wo sie ihre Jugend verlebten, ein Gefühl haben, welches sich
nicht beschreiben läßt und mit keinem anderen Gefühl verglichen werden kann.«86
Das Buch von Zangerl (nur in der vervollständigten Ausgabe von 1840 mir zugäng-
lich) verzichtet nicht auf poetische Auslegungen und Ergänzungen, doch ist er damit
beträchtlich sparsamer als Schlegel.
Junge sensible Individuen sind besonders disponiert zur Nostalgie. Diese Krank-
heit stellt er nicht wie die meisten Autoren zur Melancholie, sondern betrachtet sie als
etwas Besonderes, sowohl wegen der Art des Objektes der traurigen Leidenschaft als
auch wegen ihrer furchtbaren Heftigkeit und ihres zerstörenden Einflusses auf die
Gesundheit.
Er stellt der Nostalgia die Apodemialgia,87 das Hinausweh, gegenüber.
Die Nostalgie läßt sich einteilen in ursprüngliche (bei Gesunden entstandene) und
abgeleitete (aus anderen Krankheiten hervorgegangene), in psychische und somati-
sche und komplizierte, in offenbare, verheimlichte und simulierte.
Als Vorbote des einfachen offenbaren Heimwehs kann Nachtwandeln auftreten.
Tiroler sahen beim Nachtwandeln ihre Heimat und kamen drei | Monate später mit 11
Nostalgie ins Spital. (Dasselbe nach Jessen von Isfordink88 beobachtet.)
Die Symptome entwickeln sich in folgender Weise: der Kranke spricht gern von sei-
ner Heimat oder ist wortkarg, ernst, nachdenkend und traurig. Anfangs wagte er es
kaum, sich selbst die Ursache seiner Leiden zu gestehen und bemüht sich ernsthaft,
dieselben zu bekämpfen. Er glaubt die Stimmen geliebter Personen in den Stimmen der
ihn umgebenden Menschen wiederzufinden. Der Schlaf flieht ihn. Tritt er doch ein,
sieht er im Traume seine Familie und erlebt die glücklichen Tage der Vergangenheit, um
beim Erwachen in ein umso tieferes Meer von Traurigkeit zu versinken. Er wird emp-
findlich, verdrießlich, unzufrieden, erträgt kleine Neckereien und Ungemächlichkei-
ten mit Unwillen. Er sucht die Einsamkeit auf, alles Übrige wird ihm gleichgültig. Seine
Stille wird nur zuweilen von tiefem Atem und Seufzen unterbrochen.
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die ihn gegen Außendinge gleichgültiger machen. So wird der Erwachsene, in Geschäf-
ten und Zerstreuungen aller Art verloren, gewissermaßen blinder gegen die Außenwelt.
Er übersieht vieles, was das Kind einzeln durchdringt und beobachtet, was ihn umfängt,
macht weniger tiefen Eindruck. Aber die ersten Eindrücke aus der früheren Zeit sind
noch unerloschen und verlöschen nicht, wenn sie auch verdunkeln. Sie können nicht
ganz verschwinden, denn sie hatten auf die bleibende Gemütsstimmung und die nach-
herige Geistesrichtung den folgenreichsten Einfluß und der erwachsene Mensch ist nur
zu dem aufgewachsen, wozu er im zarten Beginn des Lebens und der ersten Selbsttätig-
keit wird. Daher bleibt ihm auch in späteren Jahren, oft ohne es zu wissen, Vorliebe zu
dem, was ihm am frühesten tief zugesagt hatte. Daher kann er in späteren Jahren in der
Fremde reizendere, schönere Naturen finden, aber sie ergreifen ihn weniger als die
Natur der Heimat, mit welcher sein ganzes Wesen einig ist. So erklären wir uns, warum
noch Greise eine heftige Sehnsucht nach den Plätzen ihrer Kinderspiele und Männer
beim Anblick der Gegend, wo sie ihre Jugend verlebten, ein Gefühl haben, welches sich
nicht beschreiben läßt und mit keinem anderen Gefühl verglichen werden kann.«86
Das Buch von Zangerl (nur in der vervollständigten Ausgabe von 1840 mir zugäng-
lich) verzichtet nicht auf poetische Auslegungen und Ergänzungen, doch ist er damit
beträchtlich sparsamer als Schlegel.
Junge sensible Individuen sind besonders disponiert zur Nostalgie. Diese Krank-
heit stellt er nicht wie die meisten Autoren zur Melancholie, sondern betrachtet sie als
etwas Besonderes, sowohl wegen der Art des Objektes der traurigen Leidenschaft als
auch wegen ihrer furchtbaren Heftigkeit und ihres zerstörenden Einflusses auf die
Gesundheit.
Er stellt der Nostalgia die Apodemialgia,87 das Hinausweh, gegenüber.
Die Nostalgie läßt sich einteilen in ursprüngliche (bei Gesunden entstandene) und
abgeleitete (aus anderen Krankheiten hervorgegangene), in psychische und somati-
sche und komplizierte, in offenbare, verheimlichte und simulierte.
Als Vorbote des einfachen offenbaren Heimwehs kann Nachtwandeln auftreten.
Tiroler sahen beim Nachtwandeln ihre Heimat und kamen drei | Monate später mit 11
Nostalgie ins Spital. (Dasselbe nach Jessen von Isfordink88 beobachtet.)
Die Symptome entwickeln sich in folgender Weise: der Kranke spricht gern von sei-
ner Heimat oder ist wortkarg, ernst, nachdenkend und traurig. Anfangs wagte er es
kaum, sich selbst die Ursache seiner Leiden zu gestehen und bemüht sich ernsthaft,
dieselben zu bekämpfen. Er glaubt die Stimmen geliebter Personen in den Stimmen der
ihn umgebenden Menschen wiederzufinden. Der Schlaf flieht ihn. Tritt er doch ein,
sieht er im Traume seine Familie und erlebt die glücklichen Tage der Vergangenheit, um
beim Erwachen in ein umso tieferes Meer von Traurigkeit zu versinken. Er wird emp-
findlich, verdrießlich, unzufrieden, erträgt kleine Neckereien und Ungemächlichkei-
ten mit Unwillen. Er sucht die Einsamkeit auf, alles Übrige wird ihm gleichgültig. Seine
Stille wird nur zuweilen von tiefem Atem und Seufzen unterbrochen.