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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0074
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Heimweh und Verbrechen

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Pinel soll die Nostalgie in einer eigenen Arbeit behandelt haben.137 Esquirol
erwähnt sie. Nach den vielen kleineren Schriften zu Beginn des Jahrhunderts erschien
1821 die oft zitierte Arbeit Larreys, die durch zweimalige Übersetzung auch eine Ver-
breitung in Deutschland erfuhr und deren Inhalt schon wiedergegeben wurde. Die
vielen weiteren Schriften sind aus dem Literaturverzeichnis zu ersehen. 1856 konsta-
tiert Brierre de Boismont ißmal Nostalgie als Ursache des Selbstmords.138 1858
schreibt Legrand du Saulle eine Studie über die Nostalgie,139 deren ästhetischer Reiz
in einem kurzen Referat nicht wiedergegeben werden kann, deren wissenschaftliche
Bedeutung im übrigen nicht groß ist. Die ersten Eindrücke des zarten Jugendalters
müssen sehr lebhaft sein und mit großer Kraft der Seele innewohnen, daß die schön-
sten Gegenden der Welt nicht die bescheidenen Orte, wo wir die Augen zuerst öffne-
ten, zum Vergessen bringen können. In dieser Sehnsucht, die der Quell reiner und
süßer Freuden ist, liegt auch der Keim einer traurigen Seelenaffektion, unter der wir in
verschiedenem Grade leiden, von der aber niemand ganz befreit bleibt. »Keine Jahres-
zeit begünstigt so die Entwicklung des Heimwehs wie der Herbst. Das Fallen der Blät-
ter, die Öde des Landes, die | kurze Zeit, die die Sonne den Horizont erleuchtet, der 20
unaufhörliche Regen, der Witterungswechsel und die feuchte Kälte fixieren tatsäch-
lich oft unseren Geist auf melancholische Gedanken. Die Tagesstunde, die am meisten
Anlaß zur Rückkehr des Gedankens an geliebte Gegenstände bietet, ist der Sonnenun-
tergang, dieser Augenblick, in welchem der Mensch eine Art ganz besonderer Müdig-
keit, ein Unbehagen und eine ganz undefinierbare Verlassenheit empfindet.«140 Die
eigentliche Nostalgie tritt besonders in dem »Alter der Illusionen«141 auf. Der junge
Student, der Rekrut leiden daran. Der typische Ablauf wird nach Müsset142 in drei Sta-
dien bis zum Tode geschildert. Wie eine Pflanze, die in fremde Erde versetzt ist, welkt
der Patient dahin. Für die Therapie verlangt Legrand du Saulle ein zartes Vorgehen,
um zum Herzen des Patienten zu sprechen und sein Vertrauen zu gewinnen. Man dürfe
durchaus nicht anstoßen. Der gemütskranke Mensch empört sich gegen die Vernunft,
wenn sie mit hoher, strenger und großartiger Stirn an ihn herantritt.
Die jetzt folgenden Arbeiten von Petrowitsch,143 Jansen,144 Decaisne145 enthal-
ten wieder in alter Weise Beobachtungen von Krankheiten, bei denen Heimweh vor-
kam und die dann einfach zur Nostalgie gerechnet wurden (Phthise, Typhus, Ikterus146
bei Jansen) und bei Petrowitsch werden neben körperlichem Verfall bis zum Tode,
neben Illusionen und Halluzinationen allerhand Monomanien, Dypsomanie147 usw.
als Folgen des Heimwehs behauptet.
Vivier in seiner Monographie über Melancholie schließt sich der alten Auffassung
an, daß die Nostalgie eine Unterform dieser Krankheit ist.148 Er zählt die Symptome auf:
reservierte und schweigsame Haltung, lange, faltige Gesichtszüge, Haarausfall, Abma-
gerung, geringes Fieber, Appetitlosigkeit, trockener Husten, Kräfteverlust, Bettlägerig-
keit, Mutacismus,149 Sprechen mit sich selbst, Inkohärenz, hohes Fieber, Tod. Die Nost-
algie käme vor im Heer, bei einfachen Völkerschaften und bei Freiheitsberaubung.
 
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