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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0076
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Heimweh und Verbrechen

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möglichen Krankheiten zur Nostalgie zu zählen, betrachtet sie vielmehr als zufällige
Komplikationen. Daß ein pathologisch-anatomischer Befund dem Heimweh entspräche,
bestreitet er, betrachtet es als eine Neurose des Gebietes des Zentralnervensystems, wo die
Einbildungskraft ihren Sitz habe. Ziemlich eingehend berührt er die Geschichte der
Heimwehlehre. Das Heimweh als Ursache von Verbrechen kennt er nicht.
Das Buch Benoists hat auch in Deutschland Anerkennung gefunden. Es ist in der
allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie eingehend referiert157 und neuerdings sogar in
Ziehens Lehrbuch angeführt.158
Nach Benoist ist die Nostalgie in der französischen Psychiatrie nicht vergessen
worden, Dagonet (Traite des maladies mentales 1876 p. 218)159 beschreibt sie, Ansich-
ten von Pinel, Larrey, Benoist referierend, eingehend als lypemanie nostalgique.
Proal' findet das Heimweh bei Kindern als Ursache von Selbstmord.160 Bei der Rück-
kehr der Zöglinge ins Lyzeum nach den Ferien entstehe manchmal ein Kummer bis
zum Lebensüberdruß. Er führt Renan an, der in seinen »Souvenirs d’enfance«161
erzähle, daß er im Lyzeum krank wurde und nahe daran war, an Heimweh zu sterben.
Besonders furchtsame und zarte Naturen werden ergriffen, die den Verkehr mit den
fremden oft moquanten Kameraden nicht vertragen. Auch Lamartine162 soll so hef-
tig an Heimweh gelitten haben, daß er daran dachte, sich das Leben zu nehmen.
In der französischen Literatur hat das Heimweh der Soldaten ein bevorzugtes Inter-
esse erregt, haben doch besonders die Militärärzte sich mit dem | Thema beschäftigt. 22
Es scheint auch tatsächlich im Heere eine Rolle zu spielen. Was darüber heutzutage
gesagt werden kann, findet sich bei Stier''.'63 Nach ihm gilt die Nostalgie in der franzö-
sischen und italienischen Armee noch heute als eine selbständige sogar häufige Krank-
heit, die in Frankreich als Nostalgie persistante sogar dienstunbrauchbar macht.
Entwicklung der forensischen Auffassung
Die Geschichte der forensischen Heimwehliteratur ist eng verknüpft mit der Lehre von
der Pyromanie.164 Man beobachtete bewußt seit Ende des 18. Jahrhunderts die rätsel-
haften Handlungen von Kindern und von Individuen in der Pubertätsentwicklung,
die nicht an einer der bekannten und benannten Geistesstörungen litten. Solche Fälle
wurden damals, der Neigung der Zeit nach Rätselvollem und Seltenem folgend, in
ziemlich großer Anzahl veröffentlicht. Und bald begannen Ärzte und Psychiater auf
Grund solcher Beobachtungen Begriffe zu bilden, die zu langwierigen Kontroversen
führten, bis sie wieder der Vergessenheit anheimfielen.
Die Tatsache, daß manche Verbrechen Jugendlicher aller verständlichen Motivie-
rung entbehren und daß die Betreffenden bei eingehender Untersuchung nachher

i L’education et le suicide des enfants, Paris 1907. p. 55.
ü Fahnenflucht und unerlaubte Entfernung. Halle 1905. p. 13 ff.
 
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