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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0077
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Heimweh und Verbrechen

doch keine geistigen Störungen mehr erkennen lassen, führte Platner zur Aufstellung
seiner Amentia occulta.165 Er konnte sich nicht entschließen, diese Menschen für
zurechnungsfähig und gesund zu halten, er kannte keine Krankheit, in die er sie ein-
ordnen konnte, also machte er aus dem Dilemma, daß die vermutete Störung nicht zu
erkennen ist, die Krankheit Amentia occulta.
Derselbe Platner brachte auch schon eine Tatsache in noch jetzt gültiger Weise
zum Ausdruck, daß diese jugendlichen Verbrecher sich noch in der Entwicklungspe-
riode befinden und der psychischen Reife entbehren. Er konstatierte die »Fatuitas pue-
rilis« und billigte den Inkulpaten die »venia aetatis« zu.166
Seine Amentia occulta begegnete heftigen Widersprüchen und war bald aus der Lite-
ratur verschwunden. Anstatt dessen schloß Henke aus 20 Fällen, die er aus Platners
und Kleins Annalen zusammenstellte,167 daß bei Jugendlichen in der Pubertätsentwick-
lung oft eine Neigung zum Brandstiften vorhanden sei, und Meckel machte daraus
einen Brandstiftungstrieb.168 Ein einzelnes Symptom war zu einer Krankheit gemacht
worden.
Dazu paßten Begriffe, die seit Esquirol in Frankreich sich entwickelt hatten, die
Monomanie raisonnante und die Monomanie instinctive. Unter ersterer Krankheits-
bezeichnung wurden Persönlichkeiten verstanden, die auf den Beobachter einen ver-
nünftigen Eindruck machten, aber an »partiellem Wahnsinn« litten, unter letzterer
ebensolche, die unerklärliche triebartige Handlungen ausführten. Jetzt ist die Mono-
manie instinctive zum impulsiven Irresein geworden. Damals fand sie, wie gelegentlich
jetzt dieses, eine sehr verlockende Anwendung auf die merkwürdigen jugendlichen
Brandstifter, und Marc schuf für diesen Spezialfall der Monomanie instinctive den
Namen Pyromanie.169
23 | Wie man sich über die Existenz eines Brandstiftungstriebes einmal klar zu sein
glaubte, vermutete man als Ursache eine triebartige Lust am Feuer. Bald waren auch
entsprechende Beobachtungen da. In der Freude junger Leute an Feuer und glänzen-
den Gegenständen, bei denen ein von Lustgefühlen begleitetes Anstaunen der Flamme
nicht selten ist, entdeckte man einen krankhaften mit der Pubertätsentwicklung
zusammenhängenden Trieb zum Feuer (z.B. Friedreich).170 Eine einwandfreie derar-
tige Beobachtung scheint dagegen nicht vorzuliegen1.171 So verband sich falsche
Begriffsbildung mit ungenauer oder verfälschter Beobachtung zu einem in der
Geschichte der Psychiatrie mächtig gewordenen Irrtum.
Doch in Deutschland regte sich schon früh die Kritik. Fleming (1830),172 Meyn,173
Richter,174 Casper175 bekämpften die Lehre von der Pyromanie und sie blieben Sieger.
i Vgl. übrigens Emminghaus, der die Sucht nach Feuer als vielen Kindern eigentümlich bezeich-
net. Diese gierige Spielerei lassen sich gesunde Kinder leicht abgewöhnen. Doch nennt er auch
eine krankhafte Sucht nach Feuer, wo trotz aller Strafen die Neigung zum Anzünden fortbesteht.
Dieser Trieb bei Kindern wird aber von Emminghaus wohl nicht zur Erklärung von Brandstiftun-
gen verwertet.
 
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