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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0078
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Heimweh und Verbrechen

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Bei diesem über Jahrzehnte sich hinziehenden Streit wurde die Kasuistik vermehrt
und wurden insbesondere die Faktoren aufgedeckt, die bei den kriminellen Handlun-
gen der Pubertätsjahre in Frage kommen. Man erkannte die Abschattierungen zwi-
schen Frevel, kindischem oder kränklichem Affekt, Verstandesschwäche, leichter Ver-
wirrung und völliger Unfreiheit (Richter). Man suchte sich Klarheit zu verschaffen
über die Reihe der Affekte, die mitwirken: Rachsucht, Bosheit, Haß, Neid, Mutwillen,
den Drang, seine Persönlichkeit geltend zu machen. Man fand die Mitwirkung von
Verstimmungen, Beängstigungen und schließlich in einer Reihe von Fällen betonte
man die ausschlaggebende Bedeutung des Heimwehs. Nur mit dieser letzteren Seite
der Fragen beschäftigen wir uns im folgenden eingehender.
Zum erstenmale wird das Heimweh als mitwirkend bei Verbrechen in Kleins Anna-
len 1795 erwähnt. »Die meisten Brandstiftungen rühren von Mädchen her, welche aus
dem väterlichen Hause in fremde Dienste gegeben werden.«176 Auch wird schon die
Bedeutung der Jugend, der Einfalt bemerkt und es werden Vorschläge an Pfarrer zur
Ermahnung junger Dienstboten gemacht.
Doch die eigentliche Begründung der Lehre vom Heimweh in forensischer Bezie-
hung rührt von Platner her. In dem Gutachten über eine jugendliche Brandstifte-
rin'177 geht er auf die Faktoren ein, die an dem Zustandekommen des Verbrechens mit-
gewirkt haben. Er findet mehr den Charakter der kindischen Einfalt als den der
Bosheit, nicht Zorn und Rachgier, sondern allein den Zweck, bei der in dem Hauswesen
der Dienstherrschaft entstehenden Bestürzung und Verwirrung den Abschied zu erhal-
ten, um zu den Eltern zurückzukommen. Er beschreibt diese aus Hilflosigkeit und
Furchtsamkeit zusammengesetzte Anhänglichkeit an das elterliche Haus, die verbun-
den mit der Abneigung vor dem Leben unter fremden Leuten, in den Kindern, zumal
vom weiblichen Geschlecht, gerade die allerheftigste und in Wahrheit auch die | aller-
natürlichste Leidenschaft ist, welche sehr oft selbst in sonst beherzten Knaben, wenn
sie auf eine auswärtige Schule oder zur Erlernung der Kaufmannschaft in die Fremde
geschickt werden sollen, bald in die heftigste Betrübnis, bald in die entschlossenste
Widersetzlichkeit überzugehen pflegt. Er unterscheidet dieses Heimweh von dem
Schweizer Heimweh, der Nostalgie, in ihrer gelehrten medizinischen Bedeutung.
Neben dem Heimweh betont er den Einfluß der Pubertätsentwicklung, einer Zeit,
in der ein närrischer Kopf, nebst den zuweilen daraus entstehenden verzweifelten Ent-
schlüssen und tollkühnen Handlungen, öfter von geheimen Beunruhigungen der Ner-
ven und des Gehirns als von einer moralisch bösen Gemütsart herrührt.
Als Hauptfaktor betrachtet er aber die psychische und moralische Kindheit, die kin-
dische Einfalt. Die Inkulpatin ist nicht imstande, das Heimweh, »diese mit der ganzen
Natur und Empfindungsart eines Kindes und besonders eines Mädchens verwebte Lei-
denschaft«,178 zu bekämpfen. Bei dem unvernünftig ergriffenen Mittel dachte sie nur

24

Vgl. den Fall Roßwein.
 
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