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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0079
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Heimweh und Verbrechen

allein an sich und an den Wunsch, bei ihren Eltern zu bleiben, nicht an das Unglück,
das dadurch für andere entstehen konnte. Sie dachte nicht an die Gesetze der natürli-
chen und christlichen Sittenlehre, die die Entstehung eines so sinnlosen Gedankens
sogleich zu unterdrücken vermöchten. Als ein unerfahrenes und unverständiges Kind
war sie nicht fähig, die außer ihrem Plane liegenden zufälligen Folgen des Feueranle-
gens, das Unglück der dadurch geschädigten Menschen in Erwägung zu ziehen, dazu
wäre einerseits mehr Kenntnis des Wertes der zeitlichen Güter, mehr Aufmerksamkeit
auf Glückseligkeit und Elend der Welt und auf den in dieser Rücksicht unterschiede-
nen Zustand der Menschen, andererseits ein höherer Grad von moralischer Überle-
gung und Selbständigkeit erforderlich gewesen. Solche Kinder lassen oft die kleinsten
Einfälle zu den heftigsten Affekten werden und führen sie vermöge der ihnen eigenen
gedankenlosen Einseitigkeit durch die kühnsten Wagstücke mit Gefahr für sich und,
ohne boshafte Absicht, mit Gefahr für andere aus. So habe auch die Inkulpatin ihr
eigenes Unglück ebensowenig wie das anderer in Betracht genommen.
Schließlich meint Platner, daß sich die an Heimweh leidenden Kinder, wie auch
zuweilen Blödsinnige und Narren, unwiderstehlich gedrängt fühlen, durch einen star-
ken sinnlichen Reiz, wie ihn der Ausbruch einer großen Flamme hervorbringt, das
drückende Gefühl der Niedergeschlagenheit zu bekämpfen.
Nachdem, wie bemerkt, Henke (Kopps Jahrb. 1817) an der Hand von 20 Fällen eine
besondere Neigung zum Brandstiften bei Knaben und Mädchen im Pubertätsalter nach-
gewiesen hatte, wobei neben der Hauptursache der Entwicklungsvorgänge verschie-
dene Motive, unter anderem auch das Heimweh eine Rolle spielte, machten Meckel
1820 und Masius 1822 daraus zwar einerseits einen besonderen Brandstiftungstrieb,
trennten jedoch von den Fällen, in denen dieser vorliege, diejenigen ab, wo Bosheit,
Zorn, Ärger, Rache, Heimweh im Spiele sind. Nach Meckel genügt der Zustand des
Heimwehs allein, erst recht die dadurch entstandene Krankheit, die Unzurechnungs-
fähigkeit der jugendlichen Brandstifter zu erweisen, während Masius nicht das Heim-
25 weh als | solches, sondern auf dem Boden desselben erwachsene krankhafte Zustände
die Unzurechnungsfähigkeit bedingen läßt. Solcher unterscheidet er zwei:
Einmal könne das Heimweh einen an Melancholie grenzenden schwermütigen
Zustand mit beängstigenden Gefühlen erzeugen; dabei könne der Gedanke, durch den
Anblick einer großen Flamme die innere Angst zu bekämpfen, zum unfreiwilligen
Drange werden und in eine unfreie Handlung übergehen. Die Kinder entwichen dann
nicht, fühlten sich hingegen nach ihrer Aussage von der heftigsten Angst befreit.
Andererseits kann nach Masius bei dem noch ohne gehörige Überlegung handelnden
Kinde das Heimweh einen heftig gereizten Gemütszustand mit Zorn und Trotz hervor-
rufen und so die Idee der Brandstiftung als eines Mittels, aus dem verhaßten Dienst zu
kommen, erregen, die dann in dem gereizten mindestens an Unfreiheit grenzenden
Zustande ausgeführt wird.
 
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