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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0133
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Heimweh und Verbrechen

die Kinder, spielte nicht mit ihnen. Eva B. zeigte kein rechtes Interesse für dieselben
usw. Dagegen wird von Hettich I. berichtet, daß sie liebreich gegen die beiden Kinder
und bei diesen beliebt war, ein Beweis, daß die vorliegende schematische Schilderung
durchaus nicht allgemeingültig ist, sondern im Einzelfalle manche Abweichungen
zuläßt.
Die Traurigkeit und Mutlosigkeit der heimwehkranken Mädchen entlädt sich in
häufigem Weinen. In vielen Fällen wird das erwähnt. Apoll, weint viel, beim Abschied
der Mutter und oft allein. Die Krebs muß sich im stillen ausweinen und, damit es nie-
mand sieht, sich dann die Augen waschen. Von der Hohnbaum, [auch der] Philipp
wird ähnliches angegeben.
Von alten Autoren wird vielfach bemerkt, daß beim Heimweh sich Empfindlich-
keit, Verdrießlichkeit, Unzufriedenheit einstelle. Apoll, wird auch als mürrisch,
unfreundlich, widerwillig während ihres Heimwehzustandes geschildert, die Hohn-
baum soll verdrießlich und ärgerlich gewesen sein, bei anderen finden sich darüber
keine Angaben. Es wird sich wohl um eine individuelle Reaktion auf depressive
Gemütsbewegungen handeln, die nicht immer das Heimweh begleitet.
Ob, wie auch alte Autoren meinen, eine Bekämpfung der Stimmung stattfindet, ist
sehr zweifelhaft. Eine Angabe darüber liegt nicht vor. Und Ratzel bekennt von seinem
Heimweh selbst: »besiegt habe ich das Heimweh nicht, es verließ mich einfach eines
Tages, als es meine Seele wie ein Vampyr ausgesogen hatte«.278
Die regelmäßige Erscheinung bei depressiven Zuständen, die Hemmung, wird auch
beim Heimweh nicht vermißt. Unlust zur Arbeit, schließlich Unfähigkeit dazu, werden
öfter bemerkt. Zwar ist dasselbe Symptom den faulen, dienstunzufriedenen Individuen
eigen und nicht ohne Prüfung zu verwenden. Apoll, vernachlässigte die Arbeit, nach-
dem sie anfangs gut war. Allein war sie ganz untätig. Hohnbaum wird später in der
Arbeit nachlässiger. Dagegen war Hettich I. gutwillig zur Arbeit und wollte sogar immer
mehr tun, als ihr aufgetragen war. Und Ratzel erzählt von sich, daß er arbeiten konnte
und dabei merkte, daß er noch ein Mensch von Fleisch und Blut und kein verträntes
71 Gespenst sei. Doch wurde seine Verstimmung schließlich so stark, daß er dachte: | »zieh
die Kleider nicht an, du hast es aufgegeben, anderen Menschen zu begegnen. Hier liegt
die angefangene Arbeit, berühre den Sisyphusstein nicht, er wird zurückrollen, wie Du
ihn auch bewegst«.279 Auch die sprachliche Hemmung wird oft deutlich. Die Kinder
werden still, in sich gekehrt, verschlossen, schweigsam, z.B. Apoll, antwortet oft gar
nicht. Wenn ihr der sehnsüchtig gewünschte Besuch zu Hause abgeschlagen wurde,
blieb sie stumm und klagte nicht. Die Verschlossenheit fiel auch bei Hettich I. auf.
Oft mögen die Heimwehkranken sich in ihrer Phantasie und ihren Träumen in der
Heimat ergehen. Spitta lief oft aus dem Hause und blickte in der Richtung nach ihrem
Heimatsort. Ratzel richtete sein Leben in denselben Zeitabschnitten ein, wie bei sei-
nen Lieben in der Heimat. Er begleitete sie im Geiste den ganzen Tag und begann
nichts, ohne sich in der Phantasie ihres Urteils zu erfreuen. Alles tiefe Fühlen und alles
 
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