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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0139
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Heimweh und Verbrechen

mungen das Heimweh nur als eine an sich belanglose Äußerungsform ansieht, so ist es
doch nach den bekannten Fällen wahrscheinlich, daß das durch entsprechenden Anlaß
entstandene gesteigerte Heimweh in einigen Fällen den unerläßlichen Boden abgibt,
auf dem es zu impulsiven Akten kommt. Eine typisch impulsive Tat ist die der Krebs. Sie
76 hat sicher ein Heimweh, das mit | dem Tage des Dienstantritts begann und schon am
vierten Tage eine gewaltige Höhe erreicht hatte, als ihr in ihrer trostlosen Stimmung
plötzlich der Gedanke kam, Feuer anzulegen. Sie wußte auch sofort, wie sie es machen
sollte, ohne an etwas anderes zu denken. Sie wurde von Bangigkeit getrieben und wußte
sich nicht anders zu helfen. Der Gedanke wich nicht von ihr. Nach drei Stunden führte
sie ihn aus. Wie sie die brennende Kohle ins Viehfutter geworfen hatte, dachte sie etwa:
»Mag es brennen oder nicht, in letzterem Falle habe es auch nichts zu bedeuten.«
Von den impulsiven Akten führen wohl Übergänge zu den planmäßigen Handlun-
gen, bei denen man zweifelt, wieweit sie impulsiv zu nennen sind. Apoll, führte ihre
beiden Verbrechen mit Sorgfalt und Vorsicht aus, das zweite Mal faßte sie abends den
Entschluß, um ihn nach durchschlafener Nacht morgens auszuführen. Ein rätselhaf-
ter Vorgang, der schwer zu verstehen ist!
Impulsive Handlungen sind Triebhandlungen (Wundt),286 die auf Grund eines
Motives ohne vorausgehenden Wahlakt blind zur Ausführung gelangen (vgl. Hoche,
Gerichtl. Psychiatrie S. 503 ff.).287 In diesem Sinne kann man Apoll.s Tat kaum zu den
impulsiven rechnen. Sie ist ein Übergang zwischen Willens- und Triebhandlungen.
Der gefaßte Plan am Abend kommt ersteren zu, das Fehlen aller Gegenmotive letzteren.
Es ist eine Handlung, die nur bei einem an der Grenze des Kindesalters stehenden
Wesen zu verstehen ist. Hoche bemerkt das Entstehen impulsiver Handlungen aus
abnormen Gefühlen und Stimmungen bei gleichzeitiger intellektueller Schwäche.
Diese wird bei Apoll, durch die kindliche Entwicklungsstufe ersetzt, die bei der vor-
handenen hoffnungslosen Traurigkeit genügt, alle höheren ethischen Gesichtspunkte
für einige Zeit zum Schwinden zu bringen.
Bei Eva. B. liegt möglicherweise sogar eine raffinierte Planmäßigkeit vor, doch ist
bei ihr die Motivierung besonders unklar.
Jedenfalls scheinen die Fälle zu zeigen, daß nicht nur rein impulsive, sondern auch
überlegte Verbrechen, denen man doch das Triebartige nicht ganz absprechen kann,
bei sittlich und intellektuell intakten, aber in kindlichem Seelenzustand sich befin-
denden Mädchen aus der Heimwehverstimmung entstehen können.
Den impulsiven stehen die Zwangshandlungen gegenüber. Wird bei den ersteren
ohne Widerstand ein Trieb in die Tat umgesetzt, gewinnt bei den letzteren eine Wil-
lensrichtung durch irgend welche pathologische Ursache solche Stärke, daß sie nicht
mehr in normaler Weise durch Gegenmotive bekämpft werden kann. Nach einem
gewaltigen, quälenden Kampf unterliegt die Persönlichkeit mit ihren normalen Moti-
ven diesem Zwangstrieb. Zur Entstehung solcher Zwangshandlungen gehört wohl
immer eine gewisse Entwicklung des Seelenlebens. Sicher ist zur Auffassung und Wie-
 
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