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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0198
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Eifersuchtswahn

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denn ihr körperlicher Zustand den ehelichen Verkehr nicht verbiete: »Der Dr. K. (Frauenarzt) hat
mich völlig geheilt, er sagte erst, ich hätte ein Leiden, das noch nicht dagewesen wäre, es müßte
ein Knochen gebrochen sein. Er sagte, es hänge mit unterdrückter Leidenschaft zusammen. Als
ich wegging, sagte er: >Sie sind durchaus gesund; Sie sind eine stramme, gesunde, blühende, kräf-
tige Frau, an der nicht das Geringste ist. Ihr Mann kann gar keine Ausrede gegen sie brauchen*.«
Bei diesen Erzählungen ergeht sie sich in endlose Nebensächlichkeiten, ohne jedoch den Aus-
gangspunkt zu verlieren. Lebhafte Affektäußerungen unterbrechen den Gedankengang. Jeden
Augenblick will sie schwören, beteuert bei allen Heiligen die Wahrheit ihrer Angaben. Sie ver-
fluche sich selbst, wenn sie ein falsches Wort gesprochen habe. »Meine Zunge soll faulen« u.
dgl. Einen Augenblick ist sie verzweifelt, ringt die Hände, weint und schluchzt, dann wieder |
springt sie auf, lacht, nimmt eine selbstbewußte herausfordernde Position an, ergeht sich in
Lobsprüchen über ihre Persönlichkeit. Ihr Mann ist einmal der Ausbund aller Schlechtigkeiten,
dann wieder meint sie, es sei ein Mißverständnis, er sei doch wohl rein, sie hätte ihm auch nie
etwas Schlechtes zugetraut. - Immer spricht sie von ihrer Verschwiegenheit, niemandem habe
sie ihre ehelichen Streitigkeiten erzählt. Im selben Atemzug berichtet sie, daß Dienstmädchen,
Ärzte, die und jene Freundin ihr recht gegeben hätten, und will auch von fremden Frauen erzäh-
len, was diese von ihren Männern ihr anvertraut hätten. Allen möglichen Kranken erzählte sie
dieselben Sachen. Außerdem erkundigte sie sich bei Wärterinnen, wie der Direktor mit seiner
Frau lebe, berichtet über das Verhältnis ihres Frauenarztes zu dessen Frau, worüber sie von den
Heidelberger Schwestern wisse. Jeden Tag ruft sie den Arzt bei der Visite auf die Seite und erzählt
ihm ungefragt von ihren ehelichen Geschichten. Ihre Lieblingslektüre ist ein gemeiner Hinter-
treppenroman, den sie mit in die Anstalt gebracht hat. - Nach einiger Zeit behauptet sie, ihr
Hausarzt habe an allem schuld, dieser habe den Mann bestochen, nicht umgekehrt, der Mann
sei immer gut gewesen. Bald wechselt auch diese Anschauung.
Eines Tages gibt sie an, sie fühle sich schwanger, habe morgens öfters Erbrechen, ihr Stuhl sei
angehalten, sie habe das Gefühl von Völle im Leib. Die gynäkologische Untersuchung ergab,
daß der stellenweise sich jetzt weich anfühlende Tumor das ganze kleine Becken ausfüllte.
Wie die Entlassung bevorsteht, verspricht sie, daß sie jetzt alles ruhen lassen wolle und ihrem
Mann keine Schwierigkeiten mehr machen werde. Doch schon auf dem Wege von der Anstalt
hatte sie Streit mit ihm. Über den weiteren Verlauf berichtet uns der Hausarzt: »Mit der Entste-
hung des schweren Knochenleidens traten die Eifersuchtsideen mehr in den Hintergrund. Das
Leiden (Osteosarkom des Beckens) war so schmerzhaft, daß sich die Aufmerksamkeit der Pat.
hierauf konzentrierte. Es kam zur Verjauchung des Knochens, mit Fisteln des Schambeins und
dessen absteigenden Ästen mit putrider Sekretion. Der Tod erfolgte im September 1900 an Sep-
sis. Die Pat. hat das schmerzhafte Leiden außerordentlich heldenhaft ertragen. Von Eifersuchts-
ideen hat sie auf dem Krankenbett nichts mehr geäußert.«
Zusammenfassung: Von Jugend auf eigentümlich. Von Beginn der Ehe an eifersüchtig. Im Kli-
makterium, als wegen einer Beckengeschwulst (Sarkom) der Coitus unmöglich wird, völlige
Beherrschung von der Eifersucht, die zu massenhaften Wahnideen und aktivem Handeln führt.
Ihre sexuelle Bedürftigkeit zeigt sich in Neigung zu Gesprächen über sexuelle Dinge, in der Beto-
nung, daß sie einen strammen Körper usw. besitze. Mit dem Wachstum des Sarkoms und der
Zunahme ihrer Leiden treten die Eifer Suchtswahnideen völlig in den Hintergrund. -

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