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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0256
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Die Methoden der Intelligenzprüfung und der Begriff der Demenz

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»jenen Elementen« nichts anzugeben imstande ist. Er stellt nur fest, daß es nicht ge-
nerell Gedächtnisdefekte, eine gewisse affektive Schwäche oder Urteilsschwäche sind.
»Man darf getrost an einem oder dem anderen dieser Defekte leiden«472 und braucht
doch der obigen Begriffsbestimmung nach nicht dement zu sein, wenn man auch
nicht gesund | ist. Ist aber das Gemeinsame der Dementen nur die soziale Unbrauch- 177
barkeit, so ist jede Art psychischer Veranlagung oder Entwicklung, welche diese Un-
brauchbarkeit bewirkt, Demenz. Man sieht, daß auch auf diese Weise der Begriff nicht
klarer begrenzt wird.
Daß der Mensch nur als Einheit, nicht partiell dement sein könne, diese Auffassung
spielte auch eine große Rolle in den Diskussionen über die »moral insanity«'.473 Die
einen behaupteten, jemand könne speziell auf dem Gebiete des sittlichen Empfindens
idiotisch sein, die anderen dagegen, das sei nur ein stärkeres Hervortreten dieser Seite
bei allgemeiner defekter Veranlagung. Dieser Gegensatz zieht sich übrigens durch die
ganze Psychopathologie. Die einen betonen, die Seele sei ihrem Wesen nach eine Ein-
heit, jede Störung müsse daher diese Einheit als Ganzes treffen, die anderen wiederum
behaupten, die Seele könne partiell gestört sein“.474 Inwiefern dieser Streit - wie wir mei-
nen - durch einfache logische Besinnung erledigt werden kann, insofern beide Teile
recht und unrecht haben, das können wir erst im weiteren Verlaufe unseres Berichtes
sehen. Hier zählten wir zunächst nur einige Begriffe der Demenz auf, um festzustellen,
daß wir wohl oder übel mit den allgemeinsten Zusammenhängen im Seelenleben
beginnen müssen, wenn wir den Versuch machen wollen, zur Klärung beizutragen.
Die psychischen Vorgänge bilden dieselbe eigenartige Einheit, die auf physischem
Gebiet die Organismen haben: Jedes Glied ist durch das Ganze bedingt und bedingt
selbst wiederum das Ganze. Kein Teil kann Veränderungen erfahren, ohne daß diese

Vorgänge, sei es bloßer Ermüdung oder einer cyclothymen Depression oder eines Dämmerzustan-
des usw.; 2. Störungen, die in der dauernden Konstitution begründet sind. Hier unterscheidet man
wiederum die Vorgänge, die zu Wahnideen, zu Konfabulationen, pathologischen Lügen usw. füh-
ren, von den Vorgängen, die unter den Begriff der Demenz fallen. Will man hier einen durchgrei-
fenden Gegensatz zwischen Demenz und allem übrigen aufzeigen, so ist es der, daß den letzteren
Vorgängen immer irgendwelche Produktivität eigen ist, während die Demenz immer darin be-
steht, daß etwas nicht geleistet wird, was zum richtigen Denken nötig ist.
So kommen wir schließlich zu einer negativen Bestimmung des Demenzbegriffes. Das richtige
Denken, der Zweck dieser Seite der psychischen Organisation, kann dauernd gestört werden durch
Prozesse der Wahnbildung, der Konfabulation, der pathologischen Lüge usw. Es ist die Macht ei-
ner eigenschaffenden, psychischen Kausalreihe, die in diesen fällen auch gegenüber einer vollen
Intelligenz zum falschen Denken führt. Überall, wo der Wegfall irgendeines notwendigen Bestand-
teils oder einer notwendigen Fähigkeit Bedingung falschen Denkens ist, reden wir von Demenz.
Teleologische Gesichtspunkte noch anderer Art begegnen uns immer wieder bei den Erörte-
rungen über den Schwachsinn.
i Vgl. die neueste Arbeit darüber von Longard, Archiv f. Psych. 43. Daselbst die Literatur.
ü Tiling (»Über den Schwachsinn«, Zentralbl. f. N. u. Ps. 1910,2) behauptet, daß die Seele nur ein
und dieselbe Kraft ist, sie erkrankt also auch in toto. Von diesem Standpunkt müssen wir die Gei-
stesstörungen und den Schwachsinn betrachten.
 
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