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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0258
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Die Methoden der Intelligenzprüfung und der Begriff der Demenz

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Betrachten wir von diesem Standpunkt den Begriff der partiellen Geistesstörung.476 Auf
körperlichem Gebiet findet der Pathologe partielle Erkrankungen. Er findet z.B. ein
Kavernom der Leber. Dieses ist verderblich für einige Leberzellen, welche erkranken oder
zugrunde gehen. Aber die übrige Leber und erst recht der Organismus bleibt völlig intakt.
Oder er findet eine vom kosmetischen | Standpunkte kranke Haut, die die Gesundheit
des Organismus nicht beeinflußt usw. Ganz analoge partielle »Erkrankungen« auf psy-
chischem Gebiet möchte vielleicht mancher zugeben: z.B. den Mangel des absoluten
Tongedächtnisses, einen Ausfall gewisser Farbenempfindungen u. dgl. - Nun kann aber
auch die Leber als Ganzes erkranken. Was jedoch der übrige Körper leidet, ist restlos als
Folge dieser Lebererkrankungbegreifbar. Wenn nach partiellen Geistesstörungen gefragt
wird, ist es meist diese Frage, ob entsprechend eine seelische Funktion erkranken könne,
so daß alle Erscheinungen als Folge dieser Erkrankung begriffen oder verstanden wer-
den, oder ob die Seele als Ganzes erkrankt und nur diese Erkrankung in einer Richtung
mehr in die Erscheinung tritt. Für die Frage: »moral insanity« oder »Schwachsinn« lau-
tet die Alternative: Ist das Gefühlsleben defekt und folgt daraus alles übrige, oder ist die
Seele als Ganzes, das sie ihrem Wesen nach ist, verändert und die Defekte des Gefühls-
lebens nur die auffallendste Erscheinung? Die Gegenüberstellung der Lebererkrankung
läßt uns die Eigenart dieser Frage sofort darin hervortreten, daß wir die Lebererkrankung
räumlich absondern können, die psychische Funktion nicht. Wir können ferner beob-
achten, wie die Leber erkrankt ist und noch keine Folgen aufgetreten sind, und können
das am Sektionstisch demonstrieren. Mit der räumlichen Trennung haben wir hier auch
die zeitliche vollziehen können. Ganz anders bei unserer psychologischen Frage. Die all-
gemeinen Störungen und die Gefühlsdefekte sind gleichzeitig gegeben und erst recht
nicht räumlich zu trennen. Ihre Analyse findet an der einen Gesamterscheinung statt;
daher muß die Behauptung einer isolierten Störung auf geistigem Gebiet einen anderen
Sinn haben. Hat der Begriff der lokalisierten körperlichen Erkrankung die Merkmale der
räumlich isolierten und zeitlich vorhergehenden, so hat der Begriff der lokalisierten Ver-
änderungen die Bedeutung einer psychologischen Abstraktion, die weder räumliche
noch zeitliche Trennung ihres Gebildes von der Gesamtheit verlangt. Sie besagt nur:
wenn ich mir diese isolierte Defektbildung denke, so verstehe ich daraus alles andere.
Würde die Defektbildung zu einer bestimmten Zeit geschehen, würde ich das andere als
Folge verstehen. Und wenn nun ein anderer Psychiater kommt und sagt: »Also ist immer
das Ganze der Seele ergriffen, denn die lokalisierte Geistesstörung ist ja nur etwas
Gedachtes«, so hat er ebensogut recht; nur hat der erstere die eigenartige Methode ange-
wandt, mit der man durch Differenzierung der psychischen Erscheinungen weiter kom-
men kann; während der zweite über seine allgemeine Behauptung, die immer zugegeben
wird, nicht hinauskommt. Wenn der zweite aber gar behaupten will, daß er das »Wesen«
der krankhaften Geisteszustände besser erfaßt habe, dem das partielle Gestörtsein wider-
spreche, so muß ihm erwidert werden, daß wir vom »Wesen« irgendwelcher Dinge nur
als Metaphysiker wissen, als Wissenschaftler dagegen nur von Beziehungen abstrahier-

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