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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen
nehmungsgegenständen zukommt. Die echten Halluzinationen haben den Charakter
der Objektivität,504 die Pseudohalluzinationen können die allerlebhaftesten, deutlichsten,
192 intensivsten sein, | sie werden nie leibhaftige Gegenstände. Aber die blässeste, undeut-
lichste, unbestimmteste Halluzination bewahrt jenen Charakter der Objektivität*.
Dieser Charakter der Objektivität ist für Kandinsky psychologisch etwas schlecht-
hin Gegebenes, er läßt sich auf kein anderes Bewußtseinsmoment verständlich zurück-
führen, er ist ein »X«. Auf die Frage, worauf er beruht, läßt sich nur durch Auffindung
außerbewußter Ursachen antworten. Kandinsky versuchte eine solche Antwort,
indem er eine sehr bestrittene und bestreitbare Theorie aufstellte: die Reizung subcor-
ticaler Ganglien soll die notwendige Bedingung des Objektivitätscharakters sein.
Als erster scheint sich Störring“505 mit Kandinskys fundamentalen Untersuchun-
gen eingehender beschäftigt zu haben. Der Begriff des Objektivitätscharakters erfuhr
bei ihm eine leichte Verschiebung. Der Objektivitätscharakter blieb nicht ein letzthin
Gegebenes, ein X, sondern Störring meinte zu finden, daß der Objektivitätscharak-
ter von der Einordnung der Wahrnehmung in den objektiven Raum, sowie den damit
gegebenen Beziehungen zu den Bewegungen des Auges und des ganzen Körpers abhänge.
Störring selbst stellt diese Abhängigkeit in Gegensatz zu der bekannten Abhängig-
keit etwa der räumlichen Anschauung überhaupt von den Bewegungsempfindungen der
Augenmuskeln. Letztere ist experimentell festgestellt, aber dem Subjekt nicht bewußt
und damit psychologisch unverständlich. Erstere dagegen ist bewußt und psycholo-
gisch verständlich.506 Störrings zusammenfassende Bestimmung lautet: »Der Objek-
tivitätscharakter der Wahrnehmungen des Gesichts im Gegensatz zu dem Subjektivi-
tätscharakter der Pseudohalluzinationen - und wir können gleich sagen auch der
Vorstellungen - hängt davon ab, daß die Wahrnehmungsinhalte dem Individuum in
den im gegebenen Moment wahrgenommenen Raum eingeordnet erscheinen und
demselben eine konstante, durch Erfahrung ihm bekannt gewordene Abhängigkeit
von den Bewegungen des Sinnesorgans und des Gesamtkörpers zeigen«*".507
In diesen Ausführungen liegt wohl schon eine Verwechslung oder jedenfalls wird
diese Verwechslung nahegelegt, die dann von Goldstein*V5°8 wirklich gemacht ist: die
Verwechslung von Objektivitätscharakter und Realitätsurteil. Goldstein faßt
Kandinskys Unterscheidung zwischen Halluzinationen und Pseudohalluzinationen
auf als den Unterschied der Halluzinationen mit Realitätsanerkennung und Halluzina-
i Kandinsky gebraucht vorwiegend den Ausdruck »Charakter der Objektivität«. Er meint damit
dasselbe, was man sonst wohl »Leibhaftigkeit« nennt. In dieser Arbeit sind beide Ausdrücke iden-
tisch gebraucht.
ü Störring, Vorlesungen über Psychopathologie. Leipzig 1900.
in l.c. S. 71.
iv Goldstein, Zur Theorie der Halluzinationen, Archiv für Psych. 44,1908. Das Studium dieser um-
fassenden und scharfsinnigen Arbeit war für mich der Anlaß zur Ausarbeitung des vorliegenden
Aufsatzes.
Zur Analyse der Trugwahrnehmungen
nehmungsgegenständen zukommt. Die echten Halluzinationen haben den Charakter
der Objektivität,504 die Pseudohalluzinationen können die allerlebhaftesten, deutlichsten,
192 intensivsten sein, | sie werden nie leibhaftige Gegenstände. Aber die blässeste, undeut-
lichste, unbestimmteste Halluzination bewahrt jenen Charakter der Objektivität*.
Dieser Charakter der Objektivität ist für Kandinsky psychologisch etwas schlecht-
hin Gegebenes, er läßt sich auf kein anderes Bewußtseinsmoment verständlich zurück-
führen, er ist ein »X«. Auf die Frage, worauf er beruht, läßt sich nur durch Auffindung
außerbewußter Ursachen antworten. Kandinsky versuchte eine solche Antwort,
indem er eine sehr bestrittene und bestreitbare Theorie aufstellte: die Reizung subcor-
ticaler Ganglien soll die notwendige Bedingung des Objektivitätscharakters sein.
Als erster scheint sich Störring“505 mit Kandinskys fundamentalen Untersuchun-
gen eingehender beschäftigt zu haben. Der Begriff des Objektivitätscharakters erfuhr
bei ihm eine leichte Verschiebung. Der Objektivitätscharakter blieb nicht ein letzthin
Gegebenes, ein X, sondern Störring meinte zu finden, daß der Objektivitätscharak-
ter von der Einordnung der Wahrnehmung in den objektiven Raum, sowie den damit
gegebenen Beziehungen zu den Bewegungen des Auges und des ganzen Körpers abhänge.
Störring selbst stellt diese Abhängigkeit in Gegensatz zu der bekannten Abhängig-
keit etwa der räumlichen Anschauung überhaupt von den Bewegungsempfindungen der
Augenmuskeln. Letztere ist experimentell festgestellt, aber dem Subjekt nicht bewußt
und damit psychologisch unverständlich. Erstere dagegen ist bewußt und psycholo-
gisch verständlich.506 Störrings zusammenfassende Bestimmung lautet: »Der Objek-
tivitätscharakter der Wahrnehmungen des Gesichts im Gegensatz zu dem Subjektivi-
tätscharakter der Pseudohalluzinationen - und wir können gleich sagen auch der
Vorstellungen - hängt davon ab, daß die Wahrnehmungsinhalte dem Individuum in
den im gegebenen Moment wahrgenommenen Raum eingeordnet erscheinen und
demselben eine konstante, durch Erfahrung ihm bekannt gewordene Abhängigkeit
von den Bewegungen des Sinnesorgans und des Gesamtkörpers zeigen«*".507
In diesen Ausführungen liegt wohl schon eine Verwechslung oder jedenfalls wird
diese Verwechslung nahegelegt, die dann von Goldstein*V5°8 wirklich gemacht ist: die
Verwechslung von Objektivitätscharakter und Realitätsurteil. Goldstein faßt
Kandinskys Unterscheidung zwischen Halluzinationen und Pseudohalluzinationen
auf als den Unterschied der Halluzinationen mit Realitätsanerkennung und Halluzina-
i Kandinsky gebraucht vorwiegend den Ausdruck »Charakter der Objektivität«. Er meint damit
dasselbe, was man sonst wohl »Leibhaftigkeit« nennt. In dieser Arbeit sind beide Ausdrücke iden-
tisch gebraucht.
ü Störring, Vorlesungen über Psychopathologie. Leipzig 1900.
in l.c. S. 71.
iv Goldstein, Zur Theorie der Halluzinationen, Archiv für Psych. 44,1908. Das Studium dieser um-
fassenden und scharfsinnigen Arbeit war für mich der Anlaß zur Ausarbeitung des vorliegenden
Aufsatzes.