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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0279
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236

Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

sein muß, damit Akte überhaupt auftreten können. Das Empfindungsmaterial würde aber
für sich kaum den Namen der Wahrnehmung verdienen, da in ihm nichts von dem
Gegenüber von Subjekt und Objekt, nichts von Gerichtetsein auf einen Gegenstand, vom
wahrnehmenden Meinen desselben steckt. Wir nehmen nicht ein Zusammen von Emp-
findungen wahr, wie einige Psychologen uns glauben machen wollen, sondern »Dinge«.
Und wir sehen nicht ein bloßes Aufeinanderfolgen von Empfindungen, sondern wir
sehen den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, wenn eine Billardkugel die andere
stößt,519 so leibhaftig vor uns, wie wir »Dinge« und nicht Empfindungskomplexe sehen'.520
Diese fundamentale Trennung in das psychische Material der Empfindungen und in
die Akte haben nach unserer Überzeugung viele Autoren im Auge, deren Ansichten
Goldstein mit mannigfachen Zitaten wiedergibt. Goldstein schließt sich deren Mei-
nung an, daß jede Wahrnehmung aus einer sinnlichen und nichtsinnlichen Komponente
besteht. Diese nichtsinnlichen Momente seien z.B. die Vorstellungen des Räumlichen und
Zeitlichen, der Identität, Ähnlichkeit und Verschiedenheit. Aber auch die »Gegenständ-
lichkeit« selbst hält Goldstein für etwas anderes als bloße Empfindungen. Er sagt z.B.:
198 »Schließlich können wir überhaupt nicht ohne Beziehung auf ein Objekt | empfinden,
d.h. wir können nur »wahrnehmen«; »die Empfindung ist nur eine Veränderung unseres
Selbst«.521 Ich bin der Meinung, daß diese unter wechselnden Formen uralte Ansicht ihren
klarsten und einwandfreiesten Ausdruck bei Husserl gefunden hat, von dessen Untersu-
chungen unsere summarische, wichtige Unterscheidung vernachlässigende Wahrneh-
mungsanalyse ihren Ausgang nahm, ohne allerdings auch nur von einem Referat dieser
ebenso wichtigen als schwierigen Untersuchungen reden zu können“.
Die Feststellung, daß zu jeder Wahrnehmung in ihrer letzten »Gegebenheit« Akte
gehören, genügt uns hier. Welcher Art diese Akte sind, untersuchen wir nicht. Wir wer-
den im weiteren Zusammenhang nur bei der Frage der »Leibhaftigkeit« der Wahrneh-
mungen zur Klärung dieser Probleme beizutragen suchen.
Hier wollen wir nur negativ feststellen, was nicht zu den Wahrnehmungsakten zu
rechnen ist. Wenn z.B. die Wahrnehmung ein »setzender« Akt genannt wird, so wird
ein Akt, in dem die Wirklichkeit anerkannt wird, als Element zur Wahrnehmung
gerechnet. Diese Akte sind aber nicht notwendig mit der Wahrnehmung verbunden.
Man kann nicht sagen, daß ohne sie keine Wahrnehmung besteht. Überhaupt alle
Akte, die ein Gültigkeitsbewußtsein begleitet, gehören nicht zur Wahrnehmung, son-
dern bauen sich auf ihr auf. Wir wollen den Begriff der »Wahrnehmung« gegenüber
dem »Denken« scharf begrenzt halten. Die Wahrnehmung ist etwas Gegebenes, das zu
Urteilen Anlaß geben kann, aber nicht selbst Urteil ist.

i Daß es wahrnehmbare und nicht wahrnehmbare Kausalität gibt, stellt Schapp dar (Beiträge zur
Phänomenologie der Wahrnehmung, Diss., Göttingen 1910, S. 53). Dieser Gegensatz fällt unter
den allgemeineren des »wahrnehmend meinen« und »urteilend meinen« (l.c. S. 131).
ü Vgl. Husserl, l.c., besonders Abschnitt V über intentionale Erlebnisse.
 
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