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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0284
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

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Für die Frage des Unterschiedes zwischen Objektivitätscharakterund Subjektivitäts-
charakter, zwischen Leibhaftigkeit und Bildhaftigkeit interessiert uns also zunächst nur
der dritte Unterschied. Dieser Unterschied wird von den Psychologen in prinzipiell ver-
schiedener Weise aufgefaßt. Die einen finden, wenn man »Entstehung« und »Realitäts-
urteil« beiseite läßt, einen übergangslosen Gegensatz zwischen Wahrnehmung und Vor-
stellung, die anderen dagegen allmähliche Übergänge von einer Seite zur anderen.
Zwei Unterschiede zwischen Wahrnehmung und Vorstellung sind sicher nur für die
letztere Anschauung zu verwerten. Sie spielen mit Recht eine große Rolle, obgleich sie
nicht absolute, sondern durch Übergänge ausgeglichene Gegensätze darstellen. Wir wol-
len sie zuerst erledigen:
1. Vorstellungen sind abhängig vom Willen, jede beliebige kann das Subjekt sich ins
Bewußtsein rufen und wieder fallen lassen, verändern und kombinieren, wie es ihm beliebt.
Wahrnehmungen sind dagegen konstant, werden mit dem Gefühl der Passivität hingenom-
men, können nicht verändert werden. Dort herrscht der eigene Wille und die Zwecke dessel-
ben, hier ein außer subjektiver Zusammenhang, der hinzunehmen ist.
2. Vorstellungen sind unvollständig, zerflattern und zerfließen, ihre Zeichnung ist
unbestimmt, verwaschen. Sie verschwinden und müssen immer von neuem erzeugt wer-
den. Die Wahrnehmungen haben dagegen bestimmte Zeichnung, können festgehalten
werden, stehen vollständig und in allen Details vor uns.
Wie leicht ersichtlich, handelt es sich hier nicht um absolute Gegensätze, sondern
um Typen, die an den Enden von Reihen stehen.
Indem Vorstellungen - charakterisiert durch das Fehlen des Objektivitätscharak-
ters - alle Eigenschaften gewinnen, die hier dem Typus Wahrnehmung | zugeschrie-
ben wurden, entspringen die Pseudohalluzinationen Kandinskys, die ganz unabhän-
gig vom Willen - nur abhängig von der Aufmerksamkeit - wie Wahrnehmungen als
etwas Fremdes kommen und gehen und dabei die vollendete Detailliertheit derselben
ohne ihre Leibhaftigkeit haben.
Der Charakter der Objektivität ist also nicht etwa identisch mit der Unabhängigkeit
vom eigenen Willen, wenngleich diese Unabhängigkeit nicht selten zu falschen Rea-
litätsurteilen Anlaß gibt. Wir werden sehen, daß trotz dieses falschen Realitätsurteils
von Kranken der Subjektivitätscharakter noch erkannt und beschrieben wird*.
ner Wahrnehmung ebenso wie diese selbst aus einem sinnlichen und einem nichtsinnlichen Be-
standteile zusammengesetzt ist, daß beide Phänomene sich mehr graduell als prinzipiell voneinan-
der zu unterscheiden scheinen« (l.c. S. 600). - Daß Goldstein diese drei Unterschiede zwischen
Wahrnehmung und Vorstellung, die aus ganz verschiedenen Gesichtspunkten ganz Verschiedenes
meinen, nicht klar getrennt hält, scheint mir der Grund, daß er die prinzipielle Trennung zwischen
Leibhaftigkeit und Realitätsurteil verkannte. Daß der Gesichtspunkt der Unterscheidung ohne Be-
merken wechselt, hat z.B. zur Folge, daß Goldstein die Pseudohalluzinationen seines Falles Tr.
S. 593 Halluzinationen, S. 605 Vorstellungen nennt, daß die Unterschiede von 1 und 2 auf S. 604
durcheinander gehen, daß die entoptischen Erscheinungen S. 606 zu den Erinnerungsbildern in
Parallele gestellt, S. 618 zu den Halluzinationen gerechnet werden usw.
i Vgl. S. 245.

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