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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0292
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

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Bewußtseinszuständen sind leibhaftige optische Halluzinationen gleichzeitig mit realen Wahr-
nehmungen nichts Unerhörtes, gar nicht zu reden von den Deliranten. In all diesen Fällen sind
die Phänomene schwerer zu beurteilen als in den bisher aufgezählten klaren Bewußtseinszu-
ständen. Ein Beispiel mag noch Platz finden:
Eine paralytische Frau von 36 Jahren545 (neurologischer und Lumbalbefund eindeutig. Hoch-
gradige Gedächtnis- und Merkfähigkeitsstörung bei geordnetem Benehmen und attentem
Wesen. Entschuldigende Ausreden. Euphorischer Schwachsinn wechselt mit Depressionen)
hatte vorübergehend, auf wenige Tage beschränkt, Halluzinationen. Ängstlich erregt. Sie habe
gehört, der Mann komme und schneide ihr die Füße. Sie wisse es sicher. »Da am Fenster bin ich
gestanden« und habe mit dem Mann gesprochen. »Er war drunten auf der Straße, es ist noch
ein anderer bei ihm gewesen, heute mittag war das.« Plötzlich, während sie das erzählt, duckt sie
sich angstvoll zusammen, starrt nach dem Flurfenster über der Tür, flüstert: »Sehen Sie, da sind
sie wieder, sehen Sie das Ende von der Leiter - - und da guckt so ein Ballon herein, da lassen sie
Gas ins Zimmer, daß ich umgebracht werden solL« Sie ist nicht zu bewegen, auf den Flur zu
gehen und nachzusehen. - Am nächsten Tage wiederholten sich ähnliche Erscheinungen, dann
nicht mehr. -
Sehr viel schwieriger als bei den Gesichtswahrnehmungen liegt das Erfassen der
räumlichen Qualitäten bei den anderen Sinnen.
Gesichtsraum und Tastraum werden von allen Psychologen anerkannt. Ob es einen
analogen Tonraum gibt, wird meist geleugnet. Die akustischen | Wahrnehmungen wer- 210
den wohl lokalisiert, aber immer unter Herbeiziehung von Gesichts- oder Tastvorstel-
lungen. Ob es außer dieser sekundären Räumlichkeit der akustischen Wahrnehmungen
noch eine primäre gibt, ist zweifelhaft. Das immerwährende Auftreten der Gesichtsbil-
der bei den lokalisierten Gehörswahrnehmungen macht eine entsprechende Beob-
achtung schwer. Als entschieden ist diese Frage nicht anzusehen. Auch den Tastraum
können wir schwer rein erfassen, da immer beim sehenden Menschen der Gesichts-
raum an seine Stelle tritt. Ein Tonraum würde natürlich nicht annähernd die Feinheit
und die Mannigfaltigkeit der Lokalisation haben wie Tast- und Gesichtsraum, aber nah
und fern, zur Seite, vorn und hinten, diese Lokalisationen sind möglich. Allerdings
bringen uns alle diese Worte sofort Gesichtsvorstellungen zum Bewußtsein.
Da die Raumvorstellungen immer abhängig zu sein scheinen von dem Zusammen-
treten zweier verschiedener Empfindungsqualitäten, so wäre hier das Zusammentre-
ten der akustischen Empfindungselemente mit den Bewegungsempfindungen der Kör-
permuskulatur möglich. Das alles sind vage Vermutungen, die wir nur andeuten, um
die Behauptung vom Fehlen eines eigenen Tonraums als eine nicht endgültig sicher-
gestellte zu kennzeichnen. Denn die Schilderungen von Kranken, die gleichzeitig aku-
stische Halluzinationen und Pseudohalluzinationen haben, lassen sehr daran denken,
daß auch hier wie bei den optischen Wahrnehmungen die Leibhaftigkeit zusammen-
hängt mit einem Erleben im subjektiven oder objektiven Raum. Kranke, die gleichzei-
tig akustische Halluzinationen und Pseudohalluzinationen hatten, sind zudem von
mehreren Seiten beobachtet, während solche, die auf optischem Gebiete gleichzeitig
 
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