Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0324
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

281

Er brachte sie nicht in Beziehung zur augenblicklichen realen Wahrnehmung. Er hielt
sie, wenn nicht in kurzen Momenten für real, doch für Halluzinationen. Wollte ich
erfahren, wie laut die Stimmen waren, konnte | ich aber so leise flüstern, wie ich wollte; 238
er sagte immer: es war noch leiser. Diese Antwort läßt sich nur so erklären, daß er mit
der »Lautheit« die »Leibhaftigkeit« meinte. Wirklich gesprochene Worte sind, wenn
sie noch so leise gesprochen werden, eben leibhaftig. Seine Stimmen waren aber nicht
leibhaftig, wenn auch gewiß viel deutlicher als leises Geflüster. Darum sagte er bei die-
sem, seine Stimmen seien noch leiser gewesen, weil er immer fühlte, daß sie eigentlich
ganz anders, daß sie, wenn wir das Wort »laut« hier für »leibhaftig« gebrauchen, über-
haupt nicht laut waren. Es waren lebhafte, detaillierte, vom Willen unabhängige,
plötzlich kommende und gehende Vorstellungen. Da sie dem Kranken infolge dieser
Eigenschaften nicht als seine Vorstellungen unmittelbar kenntlich waren, sein psycho-
logisches Urteil darum schwankend oder falsch war, versuchte er, irregeführt, eine
Lokalisation in den objektiven Raum. »Hinter dem Kopf«, »ganz fern« glaubte er die
Stimmen zu hören. Diese falsche Auffassung des Tatbestandes bei willkürlichen und
plastischen Vorstellungen ist ganz gewöhnlich. Wir sagen auch von der optischen Vor-
stellung, wir sehen sie vor uns. Bei geeigneten Fragen ist hier die Unterscheidung bei der
differenzierten optischen Raumanschauung leichter zu erreichen. Bei der akustischen
ist es immer schwer, wenn derselbe Mensch nicht echte Trugwahrnehmungen und
Pseudohalluzinationen gleichzeitig hat (vgl. den Fall Kraus S. 274).567 Ein Gelehrter, der
mir erzählte, wie der psychologische Hergang gewesen sei, als er einmal ein Drama

die Seele erfüllen. Diese Erlebnisse sind mehr als zusammenhängende Halluzinationen. Halluzina-
tionen sind darin nur ein Element. Diese Erlebnisse bedürfen besonderer Untersuchung, auf die
wir als nicht zum Thema unserer Arbeit gehörig hier nur hinweisen. Das Realitätsurteil über die
Trugwahrnehmungen sowohl während dieser Erlebnisse, als nach AWauf derselben kann genügend
nur analysiert werden, wenn man über die Erlebnisformen sich klar geworden ist. Das Realitätsur-
teil nach Ablauf der Erlebnisse ist besonders beim Alkoholdelirium Gegenstand der Untersuchung
gewesen. Zuletzt hat hierüber Stertz (Über Residualwahn bei Alkoholdeliranten, Allgem. Zeitschr.
f. Psych. 17, 540. 11910) ausführlich gehandelt. Die Korrektur wird »verstanden« aus dem Gefühl 238
des Gegensatzes der ganz verschiedenen Bewußtseinszustände im Delir und im Normalzustand, ferner
aus der inhaltlichen Absurdität vieler halluzinatorischer Erlebnisse. Umgekehrt versteht man den
Residualwahn - d.h. die hinausgezögerte und verspätete oder ausbleibende Korrektur - aus der Ver-
ringerung des Gegensatzes beider Bewußtseinszustände (geringere Bewußtseinstrübung, lytischer Aus-
gang des Deliriums), aus der Verirrung der rationalen Erwägungen des Kranken in systematisierende Er-
klärungswahnideen bei geringer Bewußtseinstrübung, indem die Einsicht hier nicht einem bloß
traumartigen Erlebnis, sondern einer anderen, falschen Einsicht gegenübersteht, oder schließlich
aus der mangelnden Initiative und Energie zu kritischer Gedankentätigkeit als Teil erseh einung eines
stuporösen oder euphorischen Schwächezustandes. Daß dieser Schwächezustand nicht mit Intelligenz-
defekt zu verwechseln ist, betont Stertz ausdrücklich. Ein Intelligenzdefekt, selbst wenn er hoch-
gradig ist, läßt die Korrektur nach einem Delirium doch ein treten. Alle diese Zusammenhänge, die
als »verständliche« ohne weiteres einleuchten, belegt und erhärtet Stertz durch eine Reihe von
Krankengeschichten, die die Mannigfaltigkeit und das Wechseln dieser Beziehungen in der indi-
viduellen Wirklichkeit hervortreten lassen.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften