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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0329
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

Neigung nicht recht ernst, oder schließlich die Frage der Realität war in einem depres-
siven Bewußtseinszustand so gleichgültig, daß darüber nicht ernstlich nachgedacht
wurde.
Zum Schluß wollen wir nun noch einen Fall betrachten, bei dem wir allerdings den
reinen Tatbestand der Halluzinationen oder Erlebnisse nicht aufklären können, der
uns aber Gelegenheit gibt, zu sehen, wie vom Kranken zwei verschiedene Arten von Rea-
lität angenommen werden, und welche Fragen uns dadurch aufgegeben sind.
August Weingartner, geboren 1863, ledig, war sein Leben lang in Mannheim. Nachdem er die
Volksschule absolviert hatte, war er dauernd Speditionsarbeiter. Februar 1908 erstattete er beim
Bezirksamt Anzeige wegen mannigfacher Verfolgungen, denen er ausgesetzt sei. Er wurde ins
Krankenhaus und von dort in die psychiatrische Klinik gebracht.
In der Klinik vollständig orientiert, besonnen, geordnet, faßt richtig auf, gibt sachgemäße
Auskunft. Seine Stimmung ist ziemlich indifferent, aber nicht gleichgültig. Sein Affekt ist, soweit
vorhanden, ein adäquater. Keine Manieren, in keiner Weise läppisch.
Daß er zur Polizei gegangen ist und seine Verfolgungen und Mißhandlungen angezeigt hat,
bedauert er lebhaft. Er hätte eben Beweise beibringen müssen, und die habe er nicht, obgleich
alles Tatsache sei. Die Leute entwischten ihm immer. »Nun stehe ich da als ein Dummer; ich
wollt, ich hätt’s nicht angezeigt.«
Seine Quälereien hätten 1901 begonnen. Damals machte man aus ihm einen Löwen oder
brachte einen Löwen in ihn hinein. Er konnte trotzdem Weiterarbeiten, da der Löwe nur zuwei-
len, besonders nachts, zum Vorschein kam. Dann - etwa eine Viertelstunde lang - mußte er auf
allen Vieren laufen und brüllen. 1903 ist der Löwe ihm zur Brust herausgesprungen und seitdem
nicht wiedergekommen.
Es mißhandeln ihn eine ganze Anzahl von Menschen. Die haben »wissenschaftliche Bücher«
und handeln im »Roman«. Aus den Büchern haben sie gelernt, auf eine merkwürdige Weise, die
er selbst nicht nachmachen kann, ihm beizukommen. Ihr Zweck ist, einerseits Gewinn daraus
zu ziehen (z.B. legen die Kerle ein Loch im Nacken an und ziehen dort Geld heraus), anderer-
seits Leiden, die sie selbst betreffen würden, auf ihn abzuwälzen. Diese Menschen können sich
verwandeln, Wände durchdringen, unter der Erde sein, aus der Erde aufsteigen usw. Als solche
»Menschen in der Verwandlung« rücken sie ihm zu Leibe. Er hat sie auch gesehen, manche sind
Zwerge, ¥2 m hoch, andere von natürlicher Größe, manche nackt, manche bekleidet. Er hat oft
nach ihnen gegriffen. Sie entwischen zu leicht. Meist sind sie weg, wenn man zufassen will.
Einem habe er einmal auf der Straße eine Ohrfeige gegeben. Einen anderen hat er gegriffen und
zur Polizei schleppen wollen, aber eben vorher entwischte er wieder. So hat er keine Beweise.
Doch hat er bestimmten Verdacht: Ein Metzger N., ein Zuckerbäcker F. und die Leute in der
Weinwirtschaft zum Weinberge sind die Übeltäter, aber auch noch andere.
243 | Es gibt auch Menschen in der Verwandlung, die ihm gut gesinnt sind, aber wenige. Diese
packen ihm Geld in seinen Nacken mit der Weisung, es wieder herauszunehmen, dann würde
er ein reicher Mann. Aber die »Bösen« haben ihm schon vorher den Nacken angebohrt und
ihrerseits das Geld genommen.
Damals, »als die Geschicksjahre angefangen haben«, wurde er für einen Engel gehalten. Das
wollten die »bösen« Verwandelten nicht. Es wurde ihm vielmehr gesagt, es solle noch Schlimme-
res kommen, und das ist: es wird ihm nachts der Schädel geöffnet und ausgekratzt, so daß er arge
Schmerzen hat. Es werden nachts Weiber zu ihm gelegt, ihm die Natur abgezogen. Außerdem wer-
 
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