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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0337
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

gemacht haben. Er besitzt eine erste einfache schematische Analyse im Stil Wernickes.
Aber er läßt damit alle feinere psychologische Analyse unter den Tisch fallen.
Die, wie wir finden, bei Goldstein nicht ganz festen Begriffe suchten wir schärfer
zu fassen. Dadurch bestätigten wir seinen Grundgegensatz, aber die Grenze zwischen
Realitätsurteil und psychischem Tatbestand der Halluzinationen mußten wir einer-
seits verschieben, indem wir Kandinskys Leibhaftigkeit zum psychischen Tatbestand
stellten, andererseits suchten wir sie ihres schwankenden Charakters zu berauben.
Demgegenüber gibt es nun ein Erklärungsmittel in der Psychologie, das, falsch
angewandt, alle unsere Trennungen, aber überhaupt alle klaren Trennungen im Psy-
chischen in ein flüssiges Hin und Her zerrinnen läßt. Es sind das die »unbewußten
250 Schlüsse«,573 die, durch Helmholtz’ Autorität | unglücklicherweise gestützt, allzuoft
und auch bei Goldstein' als ein selbstverständliches, vermeintlich anerkanntes Erklä-
rungsmittel dienen. Rechnen wir die unbewußten Schlüsse dann zum Realitätsurteil,
so ragt dieses weit und bis zu unbestimmter Grenze in das hinein, was wir als Tatbe-
stand der Trugwahrnehmung zusammenfaßten; insbesondere wird alsbald die Leib-
haftigkeit zu einem unbewußten Realitätsurteil.
Es würde hier zu weit führen, eine eingehendere Betrachtung über psychische Kau-
salität anzuknüpfen, wir müssen uns damit begnügen, in Thesenform unsere Stellung
hierzu festzulegen. Es läßt sich nicht leugnen, daß mit vollem Bewußtsein gefällte
Urteile in ihrem Resultat ohne neue bewußte Genese in abgekürzter Weise später wie-
der aktuell werden. Solche nicht neu begründete Urteile können wir als durch »unbe-
wußte Schlüsse« entstanden ansehen. Diese haben aber das Merkmal, daß sie immer
nachträglich wieder bewußt gemacht werden können. Wenn das Resultat sich dann als falsch
herausstellt, kann es korrigiert werden. Wir müssen also als Kriterium für das Vorhan-
densein unbewußter Schlüsse mindestens fordern, daß ihr Resultat, wenn es falsch ist,
der Korrektur zugänglich ist. Die leibhaftig geneigten Zöllnerschen Linien können aber
z.B. nicht korrigiert werden, sie können darum nicht durch falsche Urteile entstanden
sein. Ebenso ist es mit der Leibhaftigkeit der Sinnestäuschungen. Dagegen werden wir
zugeben, daß der undifferenzierte Wirklichkeitscharakter als durch unbewußte, abge-
kürzte Urteile zustande gekommen interpretiert werden kann. Er ist darum auch, indem
die unbewußten Schlüsse bewußt gemacht und eventuell als falsch erkannt werden, der
Korrektur zugänglich. Die im undifferenzierten Zustand für wirklich geneigt angesehe-
nen Linien werden nach Korrektur nicht mehr für wirklich geneigt beurteilt, aber leib-
haftig geneigt gesehen. -
Interessante Experimente darüber, wie bei Gesunden durch Trugwahrnehmungen
falsche Realitätsurteile mit ihren Folgen entstehen, hat Rose mitgeteilt".579 Er unter-
suchte die Veränderungen der Wahrnehmung in der Santonvergiftung. Wir geben aus

i l.C. S. 609 ff.
ü Rose, Edmund, Über die Halluzinationen im Santonrausch. Virchows Archiv 28.1863.
 
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