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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0352
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Die Trugwahrnehmungen

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wach und erschrocken. Die Augen hatten drohenden Ausdruck. Die Fratzen sind flächenhaft
und bewegen sich nicht. Sie sehen mich an. Wenn ich wegsehe, verändert es sich und es erscheint
ein anderer Kopf, größer als lebensgroß und ineinandergeschoben, Männer und Frauen können
es sein. Der Ausdruck ist meist gleichgültig. Erklären kann ich mir die Sache nicht.
Eine andere Kranke staunte selbst darüber, daß sie so merkwürdige Sachen sah. »Die Sachen
formen sich zu Bildern, grad als wenn photographiert würde, als wenn ich zeichnete.« »Die run-
den Löcher am Fenster (Schlüssellöcher) werden zu Köpfen. Die machen immer so beißende
Bewegungen gegen mich - manchmal ist alles weg, da sehe ich alles wie früher.«
Wieder eine andere Kranke erzählte, daß die Menschen die Gesichter wechseln. Ein ganz
fremdes Gesicht liegt plötzlich im Bett nebenan. Eine andere Patientin wurde schon mehrmals
als Männerkopf mit abgeschnittenen Haaren gesehen.
In der Literatur sind viele Beispiele von solchen Illusionen berichtet. Griesinger126
erzählt von einer Melancholischen, der jedesmal, wenn sie in einen Spiegel sah, ein
Schweinskopf entgegenstarrte.617 Ein anderer Kranker sah, wenn er sich in einer Fen-
sterscheibe spiegelte, die Züge eines Mädchens, wenn er sich im Spiegel sah, geschah
dies nicht. Ein Sack sieht aus wie ein Krokodil, ein Waschlappen wie ein holzgeschnitz-
ter Madonnenkopf, ein Haufen Fässer wie ungeheure Raubtiere (Hagen).618 Bei allen
diesen kurz berichteten Fällen weiß man aber nicht recht, ob sie in unsere zweite oder
dritte Gruppe zu stellen sind.
Das Gemeinsame der Illusionen ist, daß sie reale Wahrnehmungselemente enthalten,
daß diese nicht neben ihnen fortbestehen, sondern in ihnen aufgehen. Der größte Teil
der Illusionen zeichnet sich ferner aus durch die für uns bestehende Verständlichkeit des
Inhalts. Die geschilderte dritte Gruppe entbehrt jedoch dieser Eigenschaft. Die Illusio-
nen dieser Gruppe treten dem besonnenen Bewußtsein als etwas vollkommen Fremdes
gegenüber, das die Kranken beobachten, entstehen und schwinden sehen können, wäh-
rend die übrigen Illusionen entweder durch Aufmerksamkeit sofort vernichtet werden,
oder mit dem Affekt, aus dem sie geboren sind, sich wandeln. Wegen dieser tieferen
Unterschiede der dritten Gruppe von den übrigen verdiente sie einen besonderen
Namen. Man könnte sie als Pareidolien den Illusionen im engeren Sinne gegenüberstel-
len'.619 Pareidolien sind also aus Affekten und assoziativen Vorgängen nicht verständliche,
bei besonnenem Bewußtsein ohne und gegen den Willen auftretende Umformungen realer
Wahrnehmungen, so daß Elemente derselben in dieser Neuschöpfung enthalten sind.
Diese Bemerkungen enthalten schon die Abweisung zweier Verwechslungen. Zu
den Illusionen gehören nicht die intellektuellen Deutungen und nicht die funktionellen
Halluzinationen.

Kahlbaum führte den Terminus Pareidolie (Nebenbildwahrnehmung) für alle Illusionen, die eine
sinnliche Ergänzung der Wahrnehmung bedeuten, ein, um sie auch terminologisch von falschen
Deutungen der Wahrnehmungen durch Schlüsse zu unterscheiden. Da sein Terminus sich für das
ganze Gebiet nicht eingebürgert hat, dürfte eine Beschränkung auf diese engere Gruppe erlaubt
sein.
 
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