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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0360
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Die Trugwahrnehmungen

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litätsurteil, Leibhaftigkeit als Wirklichkeit interpretiert, und die Pseudohalluzinatio-
nen für Halluzinationen mit richtigem (negativen) Realitätsurteil erklärt. Demgegen-
über ist daran festzuhalten, daß der Gegensatz der Leibhaftigkeit zur Bildhaftigkeit
einen Unterschied im Tatbestand der sinnlichen Erlebnisse, richtiges und falsches Rea-
litätsurteil ebenso wie Wirklichkeit Momente des Urteils über diesen Tatbestand treffen.
Ein Übergehen einer Pseudohalluzination in eine Halluzination oder umgekehrt ist
nicht beschrieben. Eine scheinbare Ausnahme ist der Fall bei Kandinsky S. 105 Anm.
Von seinem Kranken wird der Inhalt einer Pseudohalluzination aus Anlaß realer Wahr-
nehmung im nächsten Augenblick als funktionelle Halluzination erlebt, die mit der
veranlassenden Wahrnehmung wieder aufhört. Ein »Übergang« findet hier nicht statt,
es ist ein »Sprung«.
Den Unterschied zwischen Halluzinationen und Illusionen hat man mehrfach für
unwesentlich oder äußerlich erklärt (vgl. Hagen S. 7 bis 12). Insbesondere ist auf das
Übergehen der einen Phänomene in die andern hingewiesen worden. »Ein Bild z.B., das
an der Wand hängt, scheint dem Kranken aus dem Rahmen hervorzutreten, in Lebens-
größe auf ihn zuzuschreiten; das wäre zunächst eine Illusion; die Figur bewegt sich, es
wird eine andere Figur daraus, die gar nicht mehr zu dem früheren Bilde paßt; das ist
dann eine Halluzination geworden.« (Leubuscher.)646 Uhthoff (S. 246 ff.) beschreibt
einen Fall von Übergang der Illusionen in Halluzinationen: eine Kranke mit sympathi-
scher Ophthalmie hatte zunächst farbige Lichterscheinungen, Gelb- und Blausehen.
Sie nahm dann Schleier und Wolken wahr. Plötzlich unter Erregung sieht sie überall
Vögel herumfliegen. Zwei Tage später sagt sie, aus den Vögeln seien gute Engel gewor-
den. Wieder zwei Tage später sind es Menschen. Einige Wochen später gibt die Kranke
an: »Die Farben kommen aus beiden Augen als fingerbreite, flordünne Bändchen. Diese
Farben gehen dann an die Wand und bilden, indem sie sich aufwickeln, große und
kleine Wickelchen. Aus den großen Wickeln bilden sich Bilder, die sich ihrerseits wie-
der zu Menschen umgestalten. Aus den Menschen werden dann auch Engel und diese
kommen durch den Fußboden und die Wand in das Zimmer.«647 Es wäre weiter auf Deli-
ranten hinzuweisen, bei denen Illusionen und Halluzinationen, wenn sie sich szenen-
haft entwickeln, kontinuierlich ineinander überzugehen scheinen.
Alle diese Tatsachen lehren, daß jedenfalls praktisch eine Trennung der Illusionen
und Halluzinationen nicht strikte durchführbar ist, daß aber auch wohl tatsächlich in
den Vorgängen kein scharfer Unterschied liegt. Schon die Pareidolien muten gegen-
über den Affektillusionen eigentümlich »halluzinatorisch« an. -
Ob also die Trennung zwischen Illusionen, Pseudohalluzinationen und Halluzinatio-
nen auf die Dauer sich in dieser Form halten läßt, muß zweifelhaft bleiben. Joh. Müller
und Fechner haben diese Trennung nicht gemacht. Fechner spricht immer von Über-
gängen, ja davon, daß »dasselbe Phänomen« sich bei verschiedenen Individuen einmal
als Erinnerungsnachbild, ein andermal | als phantastische Gesichtserscheinung im
objektiven Augenschwarz darstellen könne. Die hervorragendsten Autoren, die über die-

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