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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0362
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Die Trugwahrnehmungen

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| etwa als Wind zu vergegenständlichen, indem er es bloß als Empfindung vorüberge-
hen läßt, würde eine elementare Trugwahrnehmung vorliegen.
(Zwangshalluzinationen.) Als eine besondere Gruppe von Halluzinationen begeg-
nen uns weiter in der Literatur die Zwangshalluzinationen (vgl. besonders Seglas,649
Löwenfeld,650 Skliar).651 Dieses Wort hat eine mannigfaltige und darum nicht selten
unklare Bedeutung. Es bedeutet entweder einen Begriff der speziellen Psychiatrie von
klinisch-diagnostischem Sinn: Zwangshalluzinationen sind Halluzinationen, die bei
einem Krankheitstypus »Zwangsirresein« vorkommen. Diese Bedeutung interessiert
uns in diesem Referat nicht. Oder das Wort hat allgemein-psychopathologische Bedeu-
tung und dann wiederum mehrfachen Sinn:
1. sind Zwangshalluzinationen alle die Halluzinationen, die bei klarem Bewußt-
sein mit voller Einsicht in das Krankhafte und mit einem Gefühl des Zwanges, diese Hal-
luzinationen nicht los werden zu können, erlebt werden. Da bei richtigem Realitäts-
urteil wohl fast alle Halluzinationen dieses Gefühl des Zwanges hervorrufen, kommt
diesem Begriffe keine besondere Bedeutung mehr zu. Er fällt zusammen mit dem, was
man sonst Halluzinationen mit richtigem Realitätsurteil nennt.
2. hat man innerhalb jenes weitesten Begriffs (Halluzinationen bei klarem
Bewußtsein mit Einsicht und Zwangsgefühl) begrenztere Gruppen ausgesondert,
indem man Halluzinationen, die aus Zwangserscheinungen hervorgehen (obsession hal-
lucinatoire Seglas, sekundäre Zwangshalluzinationen Löwenfeld), von denen unter-
schied, die selbständig mit den Merkmalen der Zwangserscheinung auftreten (halluci-
nation obsedante Seglas, primäre Zwangshalluzination Löwenfeld). Manche
fordern, z.B. Skliar, daß nur die zweite Gruppe Zwangshalluzinationen genannt wür-
den. Auch Seglas nannte sie »eigentliche Zwangshalluzinationen«.
3. innerhalb der sekundären Zwangshalluzinationen hat man wieder zwei
Gruppen unterschieden: 1. solche, die auf Grund eines Angstaffektes mit Zwangsbe-
fürchtungen (Phobien) als Versinnlichung der Befürchtung auftreten (wenn z.B. eine
Kranke Thomsens,652 die in beständiger Angst war, daß eine rote Sublimatpastille653
in ihrem Koffer alles vergiften könne, schließlich überall rote Flecke sah), 2. solche,
die nach affektbetonten Erlebnissen wesentliche Vorstellungsinhalte solcher Erlebnisse
versinnlichen (z.B. wenn ein Kind nach dem Tode König Ludwigs von Bayern und nach
der dadurch entstandenen, von ihm miterlebten, allgemeinen Erregung abends in
der Luft eine Büste des Königs schweben sieht, oder ein anderes Kind nach der Lek-
türe eines Romans eine darin vorkommende gespenstische Hand in der Dämmerung
wahrnimmt). Die in diesen Fällen zu konstatierenden psychischen Abhängigkeitsbezie-
hungen sind an einer anderen Stelle unseres Referats zu bemerken. Sie scheinen es
nicht zu rechtfertigen, eine besondere Gruppe als Zwangshalluzinationen abzugren-
zen.
So ergibt sich uns, daß der Begriff der Zwangshalluzination, wenn überhaupt, bloß
eine diagnostische Bedeutung der speziellen Psychiatrie bewahren kann, daß er dage-

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