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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0366
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Die Trugwahrnehmungen

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»Allmählich verblaßt das Gesträuch und macht dem nebligen Fleck Platz.« In einem gewissen
Stadium zu dieser Zeit »bleibt es Nebel, wenn ich es nicht beachte, aber es wird wieder Gesträuch
daraus, wenn ich sehr darauf achte«.668
Aus derselben Arbeit Fall 4, S. 252: Retrobulbäre Neuritis. Nach längerem Bestehen traten eines
Tages eigentümliche subjektive optische Erscheinungen auf. Der Kranke sah zuerst »ein großes
Zifferblatt mit Zahlen, aber ohne Zeiger vor beiden Augen, vier Tage lang. Später zwei sich an den
Flächen reibende Glasscheiben, dann ein großes feuriges Rost (eiserne, glühende und netzförmig
angeordnete Stäbe). Dieselben schwömmen zusammen zu einem großen feurigen Klumpen und
durch diese große feurige Masse konnte Pat. noch seinen Sohn am Tisch sitzen sehen.« »Jede die-
ser Erscheinungen hielt ca. einen Tag an, und zuletzt kamen noch fliegende Vögel, dieselben
waren weiße und graue Reiher, Schwalben und Enten, langsam heranschwebend.«669
Nägeli670 gibt eine sehr eingehende und klare Schilderung seiner halluzinatorischen Erschei-
nungen, die er wahrnahm, als er nach einer Verbrennung des Auges mit kochendem Spiritus im
verdunkelten Zimmer lag. Er weiß nicht, ob er anfangs überhaupt Lichtempfindungen hatte. Erst
etwa in der 28. Stunde fiel ihm auf, daß das ganze Gesichtsfeld gleichmäßig und ziemlich inten-
siv erhellt war. »Bald nach der ersten Wahrnehmung zeigten sich einzelne Partien des Sehfeldes
mehr, andere weniger erleuchtet; die letzteren erschienen als graue, | wolkenähnliche Flecken,
bald isoliert, bald zusammenhängend. Dann traten undeutliche Figuren auf. Etwa nach zwei
Stunden wurden die Gegenstände ganz deutlich und von da an war es vollkommen, als ob ich
am hellen Tag mit offenen Augen in die Welt hineinblickte. Ich sah, was man gewöhnlich zu
sehen pflegt, Landschaften, Häuser, Zimmer, Menschen.«671 Er sah merkwürdigerweise nie das,
was ihn täglich umgab, individuell waren ihm die Gegenstände und Landschaften nicht
bekannt, sie hatten aber nichts Phantastisches oder Naturwidriges an sich. Öffnete er das bei-
nahe gesunde Auge, verschwanden sie. Er konnte sie nie willkürlich hervorrufen oder ändern.
Wenn er es versuchte, traten jedesmal ganz andere Verwandlungen ein, als er gewollt hatte. In
den Bildern war keine Bewegung, sie waren ganz unbelebt. Sie wanderten mit seinen Kopfbewe-
gungen. Die Bilder selbst zeigten fortwährend Verwandlungen, jedoch so, daß alle Stadien der
Verwandlung völlig scharfe Bilder und dementsprechend auch manchmal unnatürlich waren,
z.B. wenn die Zacken einer Eislandschaft sich in Köpfe verwandelten. Die Erscheinungen mach-
ten auf Nägeli immer einen wohltuenden Eindruck. Eine Täuschung des Urteils fand nicht statt.
Jedoch schildert er: »In der Zerstreuung setzte ich einmal das Glas Limonade auf den Tisch, den
ich mit verbundenen Augen vor mir sah, und es fiel zu Boden.«672 Aufmerksame Betrachtung
brachte eine Verschärfung der Bilder hervor. - Im gesunden Zustand hat Nägeli keine phantasti-
schen Gesichtserscheinungen bei Augenschluß und keine hypnagogen Halluzinationen. -
Berühmt ist der Fall Graefes:673 Betagter Mann. Vor vier Jahren beide Augen durch innere Ent-
zündungen verloren. Bulbi atrophisch, durch Palpation Verkalkungen zu erkennen. Seitdem hef-
tige Lichterscheinungen, die nachts beim Einschlafen hindern. »Seit P/2 Jahren (im Anschluß an
eine heftige Gemütserschütterung) hatten sich die einfachen Licht- und Farbenerscheinungen
(farbige Flecke, rote, leuchtende Kugeln, hellgrüne Streifen) dahin modifiziert, daß auf der Höhe
jedes Paroxysmus, und zwar mit Erschöpfung der farbigen Figuren, zusammengesetztere Gestal-
ten sich halluzinationsartig darboten, so daß Pat. Pferde- und Eselsköpfe, auch menschliche
Gesichter zu sehen glaubte.«674 Graefe durchschnitt die Optici. In den Wochen nach der Durch-
schneidung hatte der Pat. weder Licht und Farbenerscheinungen noch Halluzinationen. -
Der Fall Hudovernigs:675 Belasteter neurasthenischer Jüngling, Auftreten eines ständigen
Geräusches ohne nachweisbaren Grund, dazu einer menschlichen Stimme, welche ihm seine

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