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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0385
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342

Die Trugwahrnehmungen

Die letzten Fälle kennen wir als funktionelle Halluzinationen. Bei Geräuschen wer-
den Stimmen gehört, indem die realen Geräusche gleichzeitig weiter gehört und nicht
etwa illusionärer Bestandteil einer Trugwahrnehmung werden. Ein Kranker772 schil-
dert:
Ich habe noch des Umstandes zu gedenken, daß alle Geräusche, die ich vernehme, nament-
lich solche von einer gewissen längeren Dauer, wie das Rasseln der Eisenbahnzüge, das Schnur-
ren der Kettendampfer, die Musik etwaiger Konzerte usw., die von den Stimmen in meinen Kopf
hineingesprochenen Worte, sowie diejenigen Worte, in die ich meine Gedanken selbständig
mit entsprechender Nervenschwingung formuliere, zu sprechen scheinen. Es handelt sich hier,
im Gegensatz zu der Sprache der Sonne und der gewunderten Vögel, natürlich nur um ein sub-
jektives Gefühl: der Klang der gesprochenen oder von mir entwickelten Worte teilt sich eben
von selbst den von mir gleichzeitig empfangenen Gehörseindrücken der Eisenbahn, Ketten-
dampfer, knarrenden Stiefel usw. mit; es fällt mir nicht ein, zu behaupten, daß die Eisenbahnen,
Kettendampfer usw. wirklich sprechen, wie dies bei der Sonne und den Vögeln der Fall ist.773
(Vgl. ferner Kandinsky S. 105, Anm. und Kieser S. 438 ff.)
Ist das Geräusch, an das sich die Gehörshalluzinationen funktionell anschließen,
rhythmisch, so sind auch die Halluzinationen rhythmisch. In diesem Sinne kann das
Ticken der Uhr, der eigene Carotispuls (Führer) oder willkürliches Klopfen
(Goldstein) usw. wirken. Manche Gehörshalluzinationen sind abhängig von Erkran-
kungen des Ohres (Koppe, Redlich und Kaufmann). Griesinger (S. 92) führt einen
Kranken an, bei dem mit der Respiration der Klang und die Ferne der Stimme wech-
selte.
293 | Was den Inhalt der Stimmen betrifft, so handelt es sich entweder um einzelne
Worte oder um ganze Sätze, um einzelne Stimmen, um Stimmgewirr oder um geord-
nete Unterhaltung der Stimmen untereinander oder mit dem Kranken. Es sind Frauen-,
Männer-, Kinderstimmen, Stimmen von Bekannten oder Unbekannten, oder ganz
undefinierbare, gar nicht menschliche Stimmen. Es werden Schimpfworte zugerufen,
Beschuldigungen jeder Art, oder es sind sinnlose Worte, leere Wiederholungen u. dgl.
Besonders merkwürdig ist die oft beobachtete Abhängigkeit des Auftretens der Stim-
men von der Umgebung. Diese Kranken hören nur Stimmen, wenn es grade paßt, wenn
es möglich ist, daß sie grade etwas hören können. Sie hören Stimmen, wenn sie in der
Nähe Menschen sehen, wenn sie auf der Straße, im Restaurant, auf der Bahn sind.
Wenn sie sich aber einsam auf dem Zimmer halten, hören sie nichts. Hierher kann
man auch die häufige Beobachtung stellen, daß bei Wechsel des Aufenthalts, z.B. nach
Einlieferung in die Irrenanstalt, nach der Überführung in eine andere Anstalt Paranoi-
ker zunächst nichts mehr hören. Sie meinen, ihren Verfolgern entronnen zu sein. -
Auf dem Gebiete des Gehörssinns sind deutlich die Halluzinationen von den Pseu-
dohalluzinationen zu unterscheiden. Die »inneren Stimmen«, die doch irgendwie als
etwas Fremdes gegen den Willen des Kranken ihm innerlich zurufen, sind sehr häufig.
Von ihnen sowohl als von den echten Halluzinationen sind die »gemachten Gedanken«
 
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