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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0387
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344

Die Trugwahrnehmungen

Aus der Fülle der hierhergehörigen sinnlichen Vorgänge sind einige charakteristische
Gruppen herausgelöst. Man kann wohl thermische (der Fußboden ist brennend heiß,
unerträgliches Hitzegefühl) von haptischen (kalter Wind bläst die Kranken an, es krab-
beln Würmer und Insekten, überall wird gestochen) Trugwahrnehmungen unterschei-
den. Unter letzteren hat man hygrische Halluzinationen (Wahrnehmungen von Nässe
und Flüssigkeiten) (Ravenna und Montagnini)780 ausgesondert. Interessant sind die
Halluzinationen im Muskelsinn781 (Cramer).782 Der Boden hebt und senkt sich, das Bett
wird gehoben. Die Kranken versinken, fliegen usw. Ein Gegenstand wiegt in der Hand
auffallend leicht oder schwer. Die Trugwahrnehmungen von Bewegungen äußerer
Gegenstände werden als Halluzinationen im Muskelsinn der Augen, die Stimmen im
Sprachapparat als Halluzinationen in den Muskeln dieses Gebiets aufgefaßt. - Ein Teil
dieser Halluzinationen und andere, besonders Schwindelzustände, werden als Halluzi-
nationen im Vestibularapparat783 gedeutet. Zahllos sind die Angaben der Kranken über
Organsensationen. Kopf und Glieder sind dick geschwollen, Teile sind verdreht, Glieder
werden abwechselnd größer und kleiner. Es wird mit Drähten an Haaren und Zehen
gezogen usw. Mit vielen dieser Sinneswahrnehmungen scheint das leibhaftige Erlebnis,
daß es von außen gemacht wird, einherzugehen. Die Kranken deuten nicht etwa belie-
bige abnorme Organsensationen so, sondern nehmen dies »von außen« sofort wahr. So
beobachtet man, daß dieselben Kranken Schmerzen und Empfindungen bei körperli-
chen Krankheiten (Angina, Gelenkrheumatismus) richtig auffassen, dagegen ihre beson-
deren Empfindungen als von außen gemacht erleben.
Von den Arbeiten, die besonders viel Material über den allgemeinen Sinn enthalten,
sind u.a. anzuführen Schüle,784 Pfersdorff,785 Cramer.
(Lokalisation der Trugwahrnehmungen.) Über die räumliche Lokalisation der Halluzina-
tionen wurde schon mehrfach referiert. Wir haben die mannigfachen Arten der Lokali-
sation der optischen und akustischen Phänomene aufgezählt und haben besonders gese-
hen, daß nur die echten Halluzinationen und Illusionen in den äußeren Raum, die
Pseudohalluzinationen in den inneren, den Vorstellungsraum lokalisiert werden. Es feh-
295 len uns noch die extracam\pinen Halluzinationen Bleulers.549 Dies sind bestimmt lokali-
sierte Pseudohalluzinationen. Die Kranken sehen hinter sich Gestalten. Eine Kranke in
Zürich hört in Berlin sprechen, obgleich sie orientiert über ihren Aufenthalt in Zürich ist.
Ein Delirant fühlt beständig feine Wasserstrahlen von der Decke her auf seinen Handrük-
ken gerichtet, obgleich er sie nicht sehen kann. Diese Fälle haben das Gemeinsame, daß
ein sinnlich erlebter Vorgang außerhalb des Sinnesfeldes lokalisiert wird. Es handelt sich
nach Bleuler sicher um Vorstellungen von sinnlicher Lebhaftigkeit. Wir wissen, daß
diese Vorstellungen von Kandinsky als Pseudohalluzinationen beschrieben worden
sind. Ein Kranker, der selbst seine extracampinen Halluzinationen schildert, schreibt:
Mit dem leiblichen Auge kann man natürlich nicht sehen, was im Innern des eigenen Kör-
pers und an gewissen Teilen der Außenfläche z.B. auf dem Kopfe oder auf dem Rücken vorgeht,
 
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