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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0389
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Die Trugwahrnehmungen

bilden alle Übergänge von detaillierter Lebendigkeit zu vorstellungsartiger Verblaßtheit
und Armut. Die Erscheinungen der verschiedenen Sinnesgebiete passen zueinander.
Die äußeren Wahrnehmungen werden vielfach nicht mehr beobachtet. Einen Fall des
letzteren Typus hat Hoepffner788 veröffentlicht. Der erstere Typus wird durch die häu-
figen Pseudohalluzinationen der besonnenen Kranken der Dem.-praec.-Gruppe veran-
schaulicht.
Bei den Pseudohalluzinationen des zweiten Typus, wie ihn der Fall Hoepffners klas-
sisch darstellt, handelt es sich um mehr als bloß diese. Es sind »Erlebnisse«, abgegrenzt
gegen das normale Leben, in sich abgerundet, die bei einer schwer zu beschreibenden
Veränderung des Bewußtseins mit Beteiligung des Interesses, der Triebe und Gefühle
des Erlebenden vor sich gehen. Solche pseudohalluzinatorischen Zusammenhänge,
vermischt mit echten Halluzinationen und realen Wahrnehmungen und mit anderen
elementaren Symptomen bei einer Bewußtseinsveränderung bauen die Erlebniskom-
plexe vieler akuten Wahnsinnsformen auf. In dem Maße, als hier Zusammenhang zu
finden ist, wird man von »Erlebnissen« der Kranken sprechen, in dem Maße als die
Zusammenhangslosigkeit zunimmt, nähert sich der Komplex dem Bilde der Amentia,
die bei der Zerstückelung des psychischen Geschehens nur einzelne Trugwahrneh-
mungen ohne Verbindung zwischen ihnen, wie überhaupt nur einzelne psychische
Akte zeigt, bei der keine Erlebnisse stattfinden, darum auch Erinnerungslosigkeit
besteht.
Die bisher gemeinten Zusammenhänge bestanden durchweg bei einem veränder-
ten Bewußtsein. Viel merkwürdiger sind die Zusammenhänge, die bei voller Beson-
nenheit erlebt werden. In älteren psychiatrischen Schriften (z.B. Bird,789 Kelp) wird
berichtet von Fällen, in denen ein Kranker etwa einen halluzinierten Menschen ins
Zimmer kommen, Platz nehmen sieht, sich mit ihm unterhält, schließlich ihn wieder
gehen sieht. Jedenfalls wurden Unterhaltungen mit halluzinierten Gestalten gern
berichtet. Als idealtypische Vorstellung von dieser Art Halluzinationen kann die Schil-
derung Dostojewskys gelten, der in den »Brüdern Karamasow« einen Menschen im
Beginn eines Deliriums beschreibt, der sich mit einer Gestalt, die auf dem Kanapee
sitzt, unterhält:
Der Kranke erklärt: »Ich bin jetzt im Delirium - rede so viel Unsinn, wie du willst - .. Ich sehe
dich nicht, ich höre deine Stimme nicht, denn ich weiß, ich bin es selbst, ich selbst spreche und
nicht du. Du bist eine Lüge, eine Krankheit, ein Trugbild ...« Die Gestalt redet über seine intim-
sten Angelegenheiten. Der Kranke: »Schweig oder ich gebe dir einen Fußtritt.« »Das ließe ich
mir gefallen, denn ich würde damit meinen Zweck erreichen. Willst du mir einen Fußtritt geben,
297 so mußt du an meine Wirklichkeit glauben.« Ein Freund klopft ans Fenster. | Das Klopfen wurde
stärker. Iwan (der Kranke) wollte zum Fenster gehen, aber er war wie gefesselt, vergeblich nahm
er sich vor, sich aufzuraffen, die Kräfte versagten ihm... auf dem Divan gegenüber saß niemand.
»Und es ist doch kein Traum«, rief Iwan, »ich schwöre, es war kein Traum, es hat wirklich statt-
gefunden.«790
 
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